Die Anfänge meiner Welt
hortete die
Geschichten.
ZWEITER TEIL
Im Gemeindewohnhaus
Der Gartenweg — ein
Betonstreifen — war noch kaum getrocknet, als wir in unser nagelneues
Gemeindewohnhaus einzogen, und es dauerte noch Monate, bis der Strom
angeschlossen wurde, obwohl die Kabel längst verlegt waren und die Schalter
schon warteten. Helles Licht und gerade Linien waren Zeichen der Zeit. Hanmer
holte auf. Daß es überhaupt Häuser gab, die nicht den Hanmers oder den Kenyons
(oder der Kirche) gehörten, war schon an sich ein Aufbruch in neue Zeiten.
Diese Doppelhäuser im Besitz der Gemeinde, Anfang der fünfziger Jahre auf der
planierten Kuppe einer windigen Anhöhe eine halbe Meile außerhalb des Dorfes
erbaut, rissen ein quadratisches Loch in die soziale Landkarte. Die Adresse
klang geheimnisvoll — »The Arowry« (wir wohnten in Nummer vier), abgeleitet von
»Yr Orwedd«, dem walisischen Namen eines mittelalterlichen Lehensgutes in
Hanmer. Dabei hatte der jetzige Sir Edward dem Bezirksrat ein ganz normales,
von Gestrüpp bewachsenes Stück Land mit einem verfallenen schwarz-weißen
Häuschen darauf verkauft, das man kurzerhand abriß, um Platz für ein Dutzend
Familien zu schaffen, die nicht in den Bauernhöfen und Gesindewohnungen des
Dorfes untergebracht werden konnten.
Bis dahin hatte in Hanmer mehr
oder weniger der Beruf bestimmt, wo man wohnte, und die meisten Berufe gingen
von einer Generation auf die nächste über. Mein Großvater hatte das Pfarrhaus
keine zwanzig Jahre in Anspruch genommen, und jetzt gehörten wir zu den neuen
Leuten. Die Mieter der Gemeindewohnungen waren sozial mobil — nach oben in den
meisten Fällen, wenn auch nicht in unserem. Wir alle fühlten uns fehl am Platz,
irgendwie nicht ansässig. Einige der Männer waren selbständige Maurer,
Zimmerleute oder Schreiner, andere arbeiteten in Betrieben außerhalb von
Hanmer, und einer, ein ehemaliger Soldat, war Wachmann im neuen Gewerbegebiet
von Wrexham. Sie waren Dorfbewohner, die aber nicht in der Landwirtschaft arbeiteten,
und befanden sich somit in einem Schwebezustand speziell Hanmerscher Prägung.
Und wir ebenfalls.
Für mich war der Verlust des
Pfarrhauses und meines kleinen Anteils an Grandpas fragwürdigem Prestige eine
Katastrophe. Zum Ausgleich wurde ich nun ein richtiges Landkind, eine
Einheimische, die in quatschenden Gummistiefeln über Wiesen und Wege wanderte.
Die meisten Arowry-Familien hatten nagelneue Kinder, viel jünger als ich, und
so schloß ich mich morgens der dahinzockelnden Schar echter Hanmerianer an, die
auf einem holprigen Sträßchen namens Striggy Lane zur Schule pilgerten. Sie
trödelten, stapften durch schlammige Gräben, robbten wie Kommandotrupps durch
das Dickicht der steilen Böschungen — der Schulweg konnte gar nicht lang und
gewunden genug sein. Man bewegte sich gewissermaßen in lärmendem Schweigen
vorwärts, schnaufend, rufend und pfeifend. Bei Kälte schaute man seinen
Atemwölkchen nach.
Niemand redete viel. Zwei
schmächtige, wilde Mädchen, Zwillinge, hatten eine Geheimsprache erfunden und
blieben ansonsten stumm. Es waren Briggs-Kinder — die Briggs’ wohnten oben in
Mere Head, »am Ende der Welt«, wie Grandma und meine Mutter sagten. Sie waren
zahlreich, mager, grobknochig und abgerissen und gingen manchmal ohne Strümpfe.
Grandma wußte etwas von ihnen zu berichten. Sie habe einmal einem der
Briggs-Jungen einen sehr schönen Pullover geschenkt, und tags darauf sei das
dürre Familienoberhaupt selbst ganz ungeniert darin herumstolziert. Irgend
etwas an dieser Geschichte konnte nicht stimmen. Weshalb hätte sie einen guten
Pullover weggeben sollen, da unsere eigenen doch verfilzt und mottenzerfressen
waren? Ich sah die Dinge stets nüchtern. Heute weiß ich, daß sich da eine dicke
Frau über einen dünnen kleinen Mann lustig machte (wie auf den Juxpostkarten vom
Meer), nicht ohne eine versteckte Anspielung auf den komischen Kontrast
zwischen seiner anstößigen Potenz und seinem Äußeren. Vordergründig ging es ihr
natürlich darum, unseren Anspruch auf Achtbarkeit zu bekräftigen, die von Tag
zu Tag mehr abbröckelte.
Wie ein jugendlicher Vagabund
kannte ich mich aus mit Büschen, unter denen man bei Regen nicht naß wurde, und
Bauersfrauen, bei denen man eine Tasse Tee oder heiße Fleischbrühe bekam. Wann immer
ich konnte, ging ich aus dem Haus, denn ich wollte mich in The Arowry 4 partout
nicht heimisch fühlen. Es war mir zu eng dort. Nicht nur, weil das Haus kleiner
war und
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