Die Anfänge meiner Welt
Grandma uns bedrängte. Es war ein Fall von emotionaler Klaustrophobie.
In einer richtigen Familie zu leben hat für mich etwas Beklemmendes, das
unweigerlich meine schlechtesten Eigenschaften hervorruft, und das fing damals
an. Als kleines Kind hatte ich meine Eltern nie als Einheit erlebt. Nach der
Demobilisierung meines Vaters waren sie Untermieter im Pfarrhaus geworden, und
ihr Schlafzimmer unterm Dach war der einzige Raum, in dem sie für sich sein
konnten. Daß ich irgendwie zu ihnen gehörte, war mir unter der geteilten
Herrschaft meiner Großeltern verborgen geblieben. Es erschien mir seltsam und
unfair, daß ein Mann und seine Frau sich zusammentaten, gemeinsame Sache
machten. (Ob das der Grund ist, weshalb sich so viele nach der Großfamilie
zurücksehnen? Nicht weil man dort mehr, sondern weil man weniger elterliche
Zuwendung erfährt? Die Geburt meines Bruders Clive und der Umzug in das
nagelneue Haus nicht lange danach ordneten die häusliche Welt neu. Clive war
das Produkt der Wiedervereinigung meiner Eltern und ihres gemeinsamen ehelichen
Lebens. Und ich konnte nach Belieben draußen herumstromern, weil sich ihre
Aufmerksamkeit weitgehend auf das Drinnen und auf ihn richtete.
Wahrscheinlich standen
Eifersucht und zu hoch hängende Trauben hinter meiner Verwandlung in einen
Wildfang (sie wollten mich nicht, also wollte ich sie auch nicht), aber damals
kam mir das nicht so vor. Jungen galten als etwas Besseres, das wußte ich.
Grandma allerdings hielt alles Männliche generell für einen Irrtum, und eine
Zeitlang sah es so aus, als würden die Ereignisse ihr auf grausame Weise recht
geben. Mein kleiner Bruder beanspruchte die Aufmerksamkeit unserer Eltern vor
allem deshalb so stark, weil er ständig krank war, gerade so, als hätte bei
seiner Taufe eine böse Fee gelauert und ihn mit einem Fluch belegt. Männliche
Babys sind anfälliger: 1949, kurz nach seiner Geburt, erkrankte Clive an
Wundrose, als nächstes wurde er, noch ehe er sprechen gelernt hatte, mit einer
äußerst schmerzhaften Darmverschlingung in höchster Eile ins Krankenhaus
gebracht, und dann, mit zweieinhalb, bekam er Kinderlähmung.
Das war ein Schreckenswort. Es
beschwor Bilder von Menschen herauf, die in einer eisernen Lunge steckten wie
in einem Sarg; nur der Kopf schaute heraus, und sie blickten tapfer in die
Wochenschaukamera. Zumindest stellte man sich vor, daß man für den Rest seines
Lebens Metallschienen an einem verkümmerten Bein tragen mußte. »Wie man es auch
nennt«, heißt es im Science News Letter (1955), den das Oxford
English Dictionary zitiert, »Poliomyelitis, Kinderlähmung oder kurz Polio —
es ist eine Geißel, die seit langem Menschen verkrüppelt oder tötet.« Meine
Eifersucht rückte augenblicklich in den Hintergrund. Wenn das der Preis dafür
war, daß man alle Aufmerksamkeit einheimste, dann konnte ich mich glücklich
schätzen, ausgeschlossen zu sein. Erst während Clives Krankheit verfiel ich
vollends den trüben Freuden des einsamen Umherstapfens im Gelände, denn ich
wurde unter Quarantäne gestellt: Ich wurde geimpft und durfte nicht in die
Schule, bis man sah, ob ich mich ebenfalls angesteckt hatte. Ich wanderte
ziellos über die nassen Wiesen und entwickelte durch pure Einbildungskraft alle
möglichen Leiden und Schmerzen. Doch nicht einmal ich selbst glaubte an sie:
Ich konnte mich bewegen, ich stapfte weiter.
Clive, der gerade erst laufen
gelernt hatte, lag in einem Kinderbett im Wohnzimmer auf dem Bauch, umgeben von
der dreiteiligen Polstergarnitur, dem Eßtisch und dem Klavier. Dr. McColl stach
ihm mit einer Nadel in den Fuß, aber er spürte nichts. Doch er wurde wieder
gesund, dank eines rigorosen Gymnastikprogramms, bei dem Vater als
Physiotherapeut auftrat. In Clives Fall war die »Kinderlähmung« weniger schlimm
gewesen als ihr Ruf, eben weil er ein Kind war; bei Erwachsenen wirkte sie sich
verheerend aus. Wenige Jahre später, als das Ende der großen Nachkriegsepidemie
in Sicht war, verlor die Krankheit ihre Schrecken — durch Massenimpfungen wurde
sie besiegt, wenngleich die Hauptinfektionsquelle (Polio wird durch Abwässer
übertragen) bis heute nicht ausgeschaltet ist.
Als unsere aktuelle, alles
beherrschende Krise vorüber war, zählten meine Eltern zwei und zwei zusammen
und kamen zu dem Ergebnis, daß Clive sich am Meer angesteckt haben mußte. Auf
der Fahrt nach Südwales hatten wir in Porthcawl Station gemacht, wo es einen
herrlichen Strand namens Rest Bay gab, mit
Weitere Kostenlose Bücher