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Die Anfänge meiner Welt

Die Anfänge meiner Welt

Titel: Die Anfänge meiner Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lorna Sage
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Schule war für sie
eine letzte Konzession an anderer Leute Bild von der Kindheit, denn auf dem
Land waren Mädchen mit fünfzehn erwachsen.
    Die Jungen von der Hauptschule
wirkten jünger, als sie waren, und balgten sich auf den Plätzen in der Mitte,
sie markierten den wilden Mann, hielten sich etwas auf die Schmuddligkeit ihrer
Krawatten zugute und klemmten sich Zigaretten hinters Ohr. Manchmal schauten
sie den Mädchen unter den Rock und erzählten unanständige Witze, aber trotz
allem waren sie Zweite-Klasse-Passagiere, der Bus war Mädchenterritorium, die
wahren Rabauken ließen sich gar nicht erst herab, den Bus zu nehmen, sondern
fuhren mit dem Fahrrad, wenn sie nicht ohnehin schwänzten.
    Die Gymnasiasten und die
Schülerinnen der höheren Mädchenschule, eine auffällige, unstete Minderheit,
verteilten sich nach dem Einsteigen auf die vorderen Plätze. Die Jungen trugen
heldenmütig ihre leuchtendvioletten Blazer und Mützen. Das Marineblau der
Mädchen paßte wenigstens ins Bild — wenn auch nur von weitem; das Stigma wurden
sie nicht los. Als ich zum erstenmal mit dem Bus fuhr, beging ich das Sakrileg,
mich neben eines der großen Mädchen in der vorletzten Reihe zu setzen, das den
Platz für eine Freundin freihalten wollte. Sofort machte sie mich —
matronenhaft herablassend — auf meinen Fauxpas aufmerksam. In diesen ersten
Monaten landete ich meistens neben einem regelrechten Paria namens Gilbert,
einem blassen Gymnasiasten, der sehr leise sprach; seine Mutter hatte sich
einmal beim Busfahrer beschwert, weil ein anderer Junge ihm die Mütze
weggenommen hatte. Doch wer neben einem Angehörigen des anderen Geschlechts
saß, war ohnehin ein Niemand.
    Eigentlich sollte man, wenn man
die Ausleseprüfung bestanden hatte, alle Hauptschüler gewöhnlich und dumm
finden und sie verachten. In Wirklichkeit aber beneideten wir sie um ihr
gekonntes Außenseitertum, und als wir älter wurden, ahmten wir sie nach: in die
Tasche gestopfte Mützen, Schmalzlocken, geheime Medaillons und Ketten mit
Ringen daran unter der Bluse. Als der Rock’n’ Roll und die James-Dean-Welle
Whitchurch erreichten, hatten die Hauptschüler längst den richtigen Look, und
wir auch. Später sollten Gail, meine alte Schulfeindin aus Hanmer, und ich
sogar eine Mädchenbande gründen und die hinteren Sitze übernehmen. Anfangs aber
waren die Busfahrten sehr einsam. Ich kam mir vor wie evakuiert mit meinem zu
großen Gabardine-Regenmantel (mit Kapuze) über dem brettsteifen Blazer über dem
zu großen Trägerrock, meiner Mütze mit dem Schulwappen, meiner
Kunstleder-Schultasche, in der ich an diesem ersten Tag auch noch den
Schuhbeutel mit den Turnschuhen und den Sandalen für drinnen mitschleppen mußte
— alles vorschriftsmäßig mit meinem Namen in Wäschetinte versehen. Der Bus
holte mich jeden Tag um Viertel nach acht in The Arowry an der Ecke ab und
brachte mich um halb fünf wieder zurück, und dazwischen gab es nur mich und
jede Menge Latein.
    Ich verbrachte die Tage wie in
Trance, denn ich schlief nachts kaum und war durch Nebenhöhlenentzündungen, von
denen mir die Wangenknochen summten und die Augen tränten, oft fiebrig. Die
Wörter, Karten, Tabellen und Schaubilder in meinen Schulbüchern waren
vollendete Nullen für mich, leer und O-förmig — ordentlich, offen, darauf
wartend, mit Sinn erfüllt zu werden. Mir wurde ganz schwindlig von der simplen,
beglückenden Tatsache alphabetischer Abstraktion; daß die Krakel von meiner
Hand das gleiche vermochten wie die gedruckten Buchstaben in den Büchern, war
ein nicht endendes Wunder. Das war der Buchstabe des Gesetzes: Plötzlich machte
ich etwas richtig. Ich war immer eine Schnell-Leserin gewesen, und jetzt, da
Lesen als Arbeit galt, legte ich mich noch mehr ins Zeug und hatte meine
Textsammlungen im Handumdrehen durch. Mit den Zahlen war es schwieriger, sie
waren enger mit den Dingen verknüpft, doch als wir Algebra bekamen, fühlte ich
mich auch hier sicherer.
    Extraaufgaben waren ein
Geschenk des Himmels. Eine machte mir besonders viel Freude: Wir mußten ein
Erdkundealbum anlegen und nach Ländern und Kolonien geordnete Bilder einkleben.
Mit Schere und Klebstoff machte ich mich zu Hause über die National-Geographic-Sammlung aus dem Pfarrhaus her, was mir einen Vorwand lieferte, am Hausaufgabenende des
Tisches mehr Platz zu beanspruchen; und es entsprach auch meiner geistigen
Geographie, einer Collage aus lauter Einzelteilen, einem Spiegelbild des Reichs
der Zeichen. Ich

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