Die Anfänge meiner Welt
selbst wenn ich meine Mutter
überredet hatte, mir eine Entschuldigung wegen Kopfschmerzen mitzugeben. Das
wunderte mich nicht, denn ich glaubte ja selbst, daß ich schummelte. Aber
vielleicht hingen meine schlechten Leistungen im Turnen doch mit meinen
verstopften Nebenhöhlen zusammen, vielleicht hatte ich wirklich kein
Gleichgewichtsgefühl. Jedenfalls nahmen meine Turnlehrerin und auch ich selbst
meinen passiven Widerstand persönlich, sahen darin einen Charakterzug. Und
tatsächlich konnte ich, wenn niemand zuschaute, Handstand machen.
Singen konnte ich allerdings
auch dann keinen Ton, wenn niemand zuhörte — zur großen Enttäuschung der
Musiklehrerin, die zwanzig Jahre zuvor schon meine Mutter unterrichtet hatte.
Einige der alten Jungfern unter den Lehrerinnen erinnerten sich noch an das
hübsche Aussehen, die schauspielerischen Fähigkeiten und die schöne Singstimme
meiner Mutter, und für sie war ich nicht einfach nur das frühreife Landkind,
für das mich die jüngeren hielten. Ich schlug zwar offensichtlich nicht nach
ihr, aber ich hatte zumindest eine begabte Mutter. Doch im Musikunterricht
kritzelte ich in meinem Schmierheft herum, und Miss Macdonald schickte mich
meines Gezappels wegen vor die Tür, eher bekümmert als verärgert: Weshalb ich
denn nicht stillsitzen und zuhören wolle? Hätte ich mich verständlich machen
können, hätte ich gesagt, daß die Musik, da sie nicht zu verstehen sei, mich
völlig wirr im Kopf mache und ich sie ausblenden müsse. Beim Singen in der
Morgenversammlung griff ich auf meinen Trick aus dem Kirchenchor in Hanmer
zurück und bewegte nur stumm die Lippen. Die meisten Kirchenlieder kannte ich
schon, und manche hatte ich besonders gern, weil sie mich an die dunklen Winkel
im Pfarrhaus erinnerten: »Unsterblich, unsichtbar / Die Weisheit liegt bei
Gott« heiterte mich jedesmal auf, denn diese Art Mysterium war mir
vertraut.
Für Schulfeiern hatte die
Schule ein eigenes Lied aus ihrer Glanzzeit in den zwanziger Jahren, eine Art
Hockeyhymne mit einem mitreißenden Refrain — »An vielen Schulen in England / An
Schulen auch anderswo / Sind die Mädchen wohl ebenso klug / So frei und auch so
froh...« Man wußte nicht recht, ob man stolz auf das Lied sein sollte oder
nicht, denn in den fünfziger Jahren klang es doch ziemlich antiquiert, und
nicht einmal Miss Macdonalds Musterschülerinnen konnten die mehrstimmige
Melodie ohne weiteres singen. Sie wurde immer höher und endete schließlich in
einem langgezogenen, piepsigen Crescendo: »...das ist die Schu-u-le für
mich!« Ein Freund der damaligen Rektorin, einer Somerville-Absolventin, hatte
sie komponiert. Er hieß Montague Phillips, schrieb Operetten und muß für den
Höhepunkt des Refrains einige besonders helle Soprane der zwanziger Jahre im
Sinn gehabt haben. Die Strophen dazwischen erforderten weniger Stimmakrobatik,
so daß man sich auf den Text (»von Miss S. Bostock«) konzentrieren konnte, der
wunderbar das Ethos widerspiegelt, das Schulen dieser Art geformt hat.
Von Heim und Hof dort draußen
Versammeln wir uns hier
In goldner Morgenstunde
Bis an der Dämmrung Tür.
Es ist uns ganz zu eigen,
Dies muntre kleine Reich,
Dies Feld mit seinen Halmen,
Keiner dem andern gleich.
Die arkadische Schlichtheit von
Whitchurch ist der ideale Rahmen, wir sind fast ein Internat. Wir machen
unsere Mädchen so mühelos zu etwas Besonderem, wie wir die Ernte zu einer
Metapher machen. Die zweite Strophe ist in vieler Hinsicht die beste, eine
virtuose Variation über Mens sana in copore sano — vermenschlichtes
Wetter:
In kraftvollem Lauf, mit
schnellem Blick
Beim Hockey dahin es geht,
Wenn scharf über das Spielfeld
Die Winterbrise weht.
Doch wenn dann im Azur
Die Sommersonne steht,
Der Ball, ein geflügelter
Blitz,
In gerader Linie sich dreht.
Vielleicht hatte Miss Bostock
ein ganz anderes Bild von den Schülerinnen als Montague Phillips, denn diese
sportlichen Mädchen waren zu heiser, um seine hohen Töne zu treffen.
Handfestere Tugenden sind ihr wichtiger (der »gerade« Ball spricht Bände,
heimtückisch angeschnittene Bälle kommen da nicht vor); allerdings ergeht sie
sich mit »geflügelt« und »azur« auch in konventionellen Schnörkeln, so poetisch
und doch so fehl am Platz im feuchten, wolkenreichen Shropshire. Und man
beachte die geschickt übertragene Bedeutung von »scharf«: So scharf sind wir
auf den Sieg, daß der scheußliche Wind aus Wales für uns nur eine leichte
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