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Die Anfänge meiner Welt

Die Anfänge meiner Welt

Titel: Die Anfänge meiner Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lorna Sage
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übernommen und sorgte dafür, daß ihre Kinder, egal welcher Herkunft, stets
besser gekleidet waren als die meisten anderen.
    Eines Tages erschien sie nicht,
um das Geld einzusammeln, und am nächsten Tag wußten alle, warum: Sie hatte
Rattengift genommen. Den genauen Grund erfuhr man nie. Vielleicht hatte sie
insgeheim Pläne geschmiedet, aus denen nichts wurde, vielleicht war sie erneut
von George Fitch schwanger und konnte die Szenen nicht ertragen, vielleicht war
sie einfach nur wieder schwanger... Es wäre so schön melodramatisch gewesen,
sich Leidenschaft und Entsagung auszumalen, aber man konnte sich Mrs. Parkers
Beziehung mit George Fitch schwerlich als »Affäre« vorstellen; es handelte sich
wohl eher um Gelegenheitsvergewaltigungen (so hätten wir es damals nicht
ausgedrückt, aber wir wußten sehr wohl Bescheid).
    Mrs. Parkers Tod löste einen
kleinen Skandal aus. Ihre Verzweiflung durchbrach das Schema des passiven
Widerstands, niemand würde sie mehr mißhandeln. Die Sache beeindruckte mich,
aber zugleich hielt ich meine Erfahrungen mit dem anderen Leben in Hanmer in
Ehren, dem gemächlichen Leben auf untergehenden kleinen Bauernhöfen,
Daseinsformen, die man nicht erst erfinden mußte. Doch es waren nicht meine.
Vielleicht würden sie bald ganz verschwunden sein. Ich fuhr jeden Tag mit dem
Bus über die Grenze nach England, zur Schule in Whitchurch, sechs Meilen hin
und sechs Meilen zurück — in eine andere Welt.

 
     
     
    10

Nisi dominus frustra
     
     
     
     
    Ohne den Herrn ist alles
vergeblich, stand im Wappen der Whitchurch Girls’ High School auf der Brusttasche unserer
Schuluniform. Ein wahres Wort, auch wenn nicht der Herr, sondern Seine Sprache,
das Lateinische, meine Rettung war. Latein, die große tote Sprache, die nur in
schriftlicher Form existiert, sollte meine Sprachlosigkeit wettmachen, meine
schlaflosen Nächte rechtfertigen und ganz allgemein meinen Mangel an
gesellschaftlichen Umgangsformen ausgleichen. Latein war Anfang der fünfziger
Jahre noch der Inbegriff von Bildung, es war eine Art Eignungsnachweis für ein
Hochschulstudium — ohne die Abschlußprüfung in Latein kam man nicht an die
Universität, sie zeigte, daß man in der Lage war, sich vom Hier und Jetzt zu
lösen, abstrakt zu denken, sein Gedächtnis zu schulen und einsam — nur in
Gesellschaft von Büchern — im eigenen Kopf zu leben. Latein hätte somit schwer
sein müssen, aber ich fand es wunderbar leicht, aus ebendiesen Gründen. Ich
verliebte mich in die Sprache. Es war die der Toten, ergo natürlich
Grandpas Sprache. Ich hörte seinen wichtigtuerisch gereizten Tonfall und seinen
Predigerstil in jeder harmlosen Deklination und Konjugation.
    Nisi dominus frustra war Hokuspokus für das
geistige Ohr. Das wahre Motto meiner neuen Schule lautete jedoch Mens sana
in corpore sano, ein gesunder Geist in einem gesunden Körper:
Mannschaftsspiele, Religionsunterricht und Hauswirtschaftslehre nahmen viel
Raum im Lehrplan ein. Man pflegte nach wie vor das Image einer Privatschule,
man wollte lebenstüchtige, adrette Mädchen hervorbringen, die einen Mann aus
dem Ort heiraten würden, der wie ihr Vater Rechtsanwalt oder Kaufmann war. Die
Mädchen von außerhalb, die über die Ausleseprüfung an die Schule gelangt waren,
wirkten wie ein Sauerteig, aber das machte es nur um so nötiger,
privatschulähnliche Gepflogenheiten hochzuhalten: Schuluniform,
jahrgangsübergreifende Gruppen und ein kompliziertes System von
Aufsichtsschülerinnen. Sie ermahnten die Jüngeren, sich gerade zu halten,
holten sie an Regentagen in der Pause aus dem Garderobenraum und scheuchten sie
über den Sportplatz. Indem ich mich ins Lateinische verliebte, folgte ich also
eher dem Buchstaben des schulischen Gesetzes als seinem Geist.
    Gut angeschrieben waren Mädchen
ohne Ecken und Kanten, gutwillige, aufgeweckte, robuste Mädchen, die das Beste
aus sich machten. Selbst die kollektiven Phantasien hatten Klasse. Viele
träumten davon, Stewardeß zu werden. Stewardessen hatten sich damals noch nicht
als Kellnerinnen der Lüfte entpuppt; man brachte sie mit Teamgeist und
Patriotismus in Verbindung, mit den Luftwaffenhelferinnen, die in Kriegsfilmen
Flugzeugattrappen in Hauptquartierbunkern hin und her schoben und um
heldenhafte Piloten trauerten. In Friedenszeiten standen die Chancen, einen
Piloten zu heiraten, besser — oder auch einen Erste-Klasse-Passagier, der schon
daran, wie man den Kaffee einschenkte, erkannte, daß man alle

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