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Die Anfänge meiner Welt

Die Anfänge meiner Welt

Titel: Die Anfänge meiner Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lorna Sage
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stellte mir vor, mein Gedächtnis bestünde aus einer Reihe von
Räumen, angefüllt mit alten Münzen, ausgestopften Schlangen und gepreßten
Blumen. Ich lernte mühelos Gedichte auswendig und hängte sie wie Stoffmuster an
die Wände. Wenn ich mich etwas anstrengte, konnte ich ganze Seiten aus dem
Biologiebuch oder französische unregelmäßige Verben in imaginären Schränken
lagern und jederzeit hervorholen. Mein ganzer Stolz aber war die Pflichtlektüre
in Latein. »Gallia est omnis divisa in partes tres...« Cäsars Gallischer
Krieg vermittelte mir ein souveränes Selbstvertrauen. Bücher waren für mich
ganz allgemein so etwas wie Pop-up-Bücher, und Cäsar ganz besonders. Seine
Worte konnte man wie Zinnsoldaten in Schlachtordnung aufstellen.
    Doch ich war zu schüchtern, um
mich im Unterricht zu melden, und wenn ich vorlesen mußte, hastete ich
nuschelnd und mit rotem Kopf durch die volkstümliche oder pseudo-melodische
Passage aus einem Schauspiel oder einem Gedicht, das wir »vortrugen«. »Hinauf
auf Bergeshöhe / Hinab in tiefes Tal...« Ich konnte es kaum erwarten, den
lärmenden Unsinn aus seiner Not zu erlösen und im stillen Kämmerlein zu
sezieren. Nicht die Hälfte der Wörter, mit denen ich auf dem Papier spielte,
konnte ich korrekt aussprechen, und wenn hilfreiche Lehrer mich verbesserten,
schämte ich mich zu sehr, um die richtige Form aufnehmen zu können. Etwas auf
französisch zu sagen kam schon gar nicht in Frage; die Befangenheit verschloß
mir den Mund. »Je m’appelle...« Mein Name ließ sich nicht französisch
aussprechen, und ohnehin murmelte ich ihn so leise vor mich hin, daß es wie
Laura klang.
    Das einzige, worin ich seit der
Schule in Hanmer Fortschritte gemacht hatte, war Selbstbeherrschung: Ich
lernte, meine Tränen hinunterzuschlucken. Dank der schriftlichen Prüfungen war
ich am Ende des ersten Trimesters fast in allen Fächern Klassenbeste. Das
konnte nur bedeuten, daß meine eigene Währung auch in der Welt draußen galt.
Ich klopfte mir selbst auf die Schulter. Auch Häme mischte sich in meinen
Triumph; denen hab ich’s gezeigt, dachte ich. Damit meinte ich meine
Mitschülerinnen und die Lehrer, die mich verdächtigt hatten, ich ließe mir die
Hausaufgaben von jemand anderem machen. Vor allem aber meinte ich meine Eltern,
besonders meinen Vater. Am Tag bevor ich auf die höhere Schule kam, hatte er
mich beiseite genommen und gesagt, ich dürfe nicht erwarten, daß man mich dort
für gescheit halten werde, so wie in Hanmer. Ich müsse Augenmaß bewahren, die
Dinge nüchtern betrachten, ausgewogen urteilen, realistisch sein.
    Er mußte sich mit meinen
katastrophalen Noten im Sportunterricht und speziell im Geräteturnen trösten,
wo sich mein Radfahrfiasko prompt wiederholte. Ich konnte bockspringen und auf
Bäume klettern, ich konnte mich sogar über ein Gatter mit fünf Querlatten
»schwingen«, wenn ich mich auf die drittunterste Latte stellte (vom Boden aus
war ich zu klein): die linke Hand auf die oberste Latte, die rechte von der
anderen Seite auf die zweitoberste, und hinüber! Beim Sprungpferd aber war
alles aus. Ich zögerte und verlor jedes Selbstvertrauen, lange bevor ich das
sogenannte Sprungbrett erreichte und in Zeitlupe gegen die harte Lederflanke
prallte. An der Sprossenwand wurde mir schwindlig. Seilklettern konnte ich
überhaupt nicht, alle Kraft wich aus meinen Armen, und ich fing an zu zittern,
so fruchtlos waren meine halbherzigen Versuche. Keine Ermunterung half, und schon
bald war die Turnlehrerin regelrecht angewidert von mir.
    Ich stellte mich so unmöglich
an, daß mir nichts beizubringen war, ich war nicht spontan, ich war nicht
offen. Für die Lehrerin war das krankhaft im moralischen Sinne, sie sah in mir
die geborene Simulantin. Mit zusammengebissenen Zähnen hievte sie mich übers
Pferd, und man merkte, daß sie mich nicht gern anfaßte. Und ausgerechnet sie —
denn sie war für unsere Körperhaltung und »Hygiene« zuständig — mußte meine
Eltern über die Läuse in meinen ungewaschenen Haaren informieren (ich hatte
immer noch Zöpfe), ausgerechnet sie mußte mir beibringen, mich gerade zu
halten, wenn ich bei der Schulfeier meine Preise entgegennahm. Da ich die
Jüngste war, mußte ich die Bühne als erste überqueren und durfte nicht gleich
zu Anfang einen solch schlechten Eindruck machen. Ich war eine von denen, die
sich blamierten, wo sie nur konnten. Aber sie ließ nicht locker und weigerte
sich, mich vom Turnunterricht zu befreien,

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