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Die Anfänge meiner Welt

Die Anfänge meiner Welt

Titel: Die Anfänge meiner Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lorna Sage
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Voraussetzungen mitbrachte,
um auf festem Boden irgendwo in Surrey seine Gattin zu spielen.
    Whitchurch war ein
selbstzufriedenes, von Einzelhändlern, Versteigerern und Buchhaltern geprägtes
Marktstädtchen in Shropshire. Freitags war Viehmarkt, Mittwoch nachmittags
blieben die Läden geschlossen (was strikt eingehalten wurde). Die großen
Ereignisse der frühen industriellen Revolution, die Orte wie Ironbridge
hervorgebracht hatten, waren an Whitchurch vorbeigegangen, aber es gab noch
Smith’s Gießerei und Joyce’s Uhrenfabrik (Lord Haw-Haw alias William Joyce, die
Rundfunkstimme des Nationalsozialismus während des Krieges, war ein Vetter von
Mr. Joyce) und einen verlassenen Pier, an dem ein nicht mehr genutzter Arm des
Shropshire Union Canal endete. Diese Sackgasse war ein passendes Symbol für die
Situation der Stadt.
    Es hieß, Whitchurch wäre vor
langer Zeit beinahe anstelle von Crewe der große Eisenbahnknotenpunkt der
Region geworden und nur der Widerstand weitblickender Stadtväter habe ihm
seinen Charakter als ländlicher Handelsplatz bewahrt. Der verschlafene Bahnhof
war nur eine von vielen Stationen zwischen Shrewsbury und Crewe, aber immerhin
führte noch eine Strecke westwärts nach Aberystwyth in Wales, die allerdings
bald stillgelegt werden sollte, und eine weitere nach Chester und zu einem
Kohlendepot. Ansonsten gab es in Whitchurch noch ein Käsewerk und eine neue
Silhouette-Miederwarenfabrik, in der unerschrockene Frauen mit Lockenwicklern
im Haar die bewehrten (wattierten, kreisnaht-, gummi- oder stäbchenverstärkten)
BHs und Hüfthalter herstellten, die all die Mädchen ohne Ecken und Kanten
formen würden.
    Den Nabel der Stadt bildete der
einstige Viehmarkt, Bull Ring genannt. Hier trafen die High Street, Green End
und die Bridgewater Street zusammen, in denen sich Laden an Laden reihte —
Eisen-, Haushaltswaren- und Samenhandlungen, Lebensmittelläden, Kleider-,
Schreibwaren- und Textilgeschäfte. Das auffälligste Merkmal der Stadt (sie
hatte damals rund fünfzehntausend Einwohner) waren jedoch die vielen Bars und
Kneipen, über dreißig an der Zahl, von »Hotels« wie dem Queen Vic, wo die
wohlhabenden Bauern speisten, während ihre Rinder und Schweine unter den Hammer
kamen, bis hin zu Spucknapf-und-Sägemehl-Pinten wie den Back Street Vaults oder
Grandpas alter Stammkneipe, dem Fox and Goose, in denen die niederen Stände
zechten. In Whitchurch wurde täglich schwer getrunken, nicht nur an Markttagen;
ein volles Städtchen, in mehrfacher Hinsicht.
    Besonders viel Betrieb
herrschte an den Sonntagen, wenn Wales trocken war. Dann wurde der blaue Bus,
mit dem ich zur Schule fuhr, zu einem Pendelbus, der durstige Maelorer über die
Grenze nach England brachte. Gleich am Stadtrand stand der riesige Highgate
Pub. Er war wie eine öffentliche Toilette gefliest, und sein Schild verkündete
großspurig, daß er — je nachdem, aus welcher Richtung man kam — »Das
erste/letzte Wirtshaus in England« sei. Natürlich tranken nicht alle dort; man
verteilte sich über die ganze Stadt, und zur Geisterstunde um halb elf traf man
sich wieder im Bus. Schnarchend fuhr man dann heimwärts, an einem anderen
schmiedeeisernen Schild vorbei, einseitig beschriftet nur und unbeleuchtet, auf
dem Croesuy Cymm stand, Willkommen in Wales.
    Montag morgens roch es im Bus
nach Wem Ales und Woodbines: sela Wot emocleW. Keiner von uns sprach Walisisch,
aber man erkannte uns an unserem breiteren Shropshire-Akzent. Wir hatten unsere
eigene soziale Hierarchie: Der Bus fuhr drei Schulen an — die Hauptschule
(gemischt), das Jungengymnasium und die höhere Mädchenschule — , und es gab
darin eine komplizierte, stillschweigend eingehaltene Sitzordnung.
    Die hinteren Plätze waren den
vierzehn- bis fünfzehnjährigen Mädchen vorbehalten, die auf die Hauptschule
gingen, im Moment jedenfalls noch. Sie hatten Dauerwellen, einen Freund und
schon eine Arbeitsstelle in Aussicht, sie nahmen es mit der vorschriftsmäßigen
Schuluniform nicht so genau, und sie stoppten die Laufmaschen in ihren
Perlonstrümpfen betont lässig mit Nagellack. Sie hatten furchtbar viel
miteinander zu reden und zu lachen. Auf der Heimfahrt lackierten sie sich die
Nägel, und am nächsten Morgen zupften sie den Lack wieder ab, und manchmal
reichten sie eine Flasche Nagellackentferner herum, der berauschend nach
Birnenbonbons roch. Die Einkaufstaschen, die sie als Schultaschen benutzten,
enthielten keine Bücher, sondern Kleider zum Wechseln; die

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