Die Anfänge meiner Welt
Brise
ist. Strophe drei handelt von dem Kriegshelden Sir John Talbot, der das
Britische verkörpert — mutig wie er werden wir uns allen drohenden »Schatten«
(sehr vage, diese Schatten) entgegenstellen. Die vierte und letzte Strophe aber
führt alles zusammen, Mannschaftsspiele und Jungfräulichkeit werden gegen die
Mächte der Finsternis »in der Welt draußen« aufgeboten:
Verlassen wir unser kleines
Reich,
So sind wir nicht mehr Kind.
Fahren auf des Lebens Meer
hinaus.
Die Segel gebläht im Wind...
Wir interpretierten diese Zeile
damals schlicht und grob als eine Warnung davor, mit den Jungen »bis zum
Letzten zu gehen«, unterschätzten dabei jedoch Miss Bostock, die in
verschlüsselter Form vom Empire sprach und davon, daß man die Werte, die man
sich als Hockeyspielerin zu eigen gemacht hatte, nach Indien oder Afrika
exportieren oder zumindest tugendhaft Söhne hervorbringen müsse, die das tun
würden. Dies war der ferne, mythische Ursprung unserer Stewardessen-Phantasien,
auch wenn uns das nicht bewußt war. Daß unerbittlich der schreckliche Refrain
folgte, trug möglicherweise dazu bei, Miss B.s großartige Sicht der weiten Welt
zu trüben: Wieder in die Schu-u-le.
Ich sang den Refrain stumm mit,
und ich war allein. In meinem ersten Jahr auf der höheren Schule hatte ich keine
Freunde, die meiste Zeit war ich unsichtbar und auch unhörbar: klein,
schmuddelig, unbeholfen, eine Streberin und eine Niete im Sport. Und obendrein
hatte ich Läuse. Als wir das tödliche Shampoo endlich bei Boots kauften und es
anwendeten, verschwanden sie, aber nicht alle auf einmal, und eine Zeitlang
kratzte ich mich aus alter Gewohnheit weiter.
Was noch schlimmer, viel
schlimmer war: In jenem Winter bekam ich eine Zahnspange, oben und unten — ein
Mundvoll glänzender, verschlungener Drähte. Heutzutage ist es fast schon ein
Makel, wenn man nicht zum Kieferorthopäden geht, ein metallisches
Grinsen ist so sexy wie ein Satz Ringe im Ohr oder ein Stecker in der
Augenbraue, und man kann sich kaum noch vorstellen, wie grotesk meine Spange im
Whitchurch des Jahres 1953 wirkte. Niemand sonst hatte eine. Es war eine
bizarre Scheußlichkeit, wie ein so grauenvolles Schielen, daß man eine
Augenklappe tragen mußte, wie ein violettes Muttermal oder eine Beinschiene.
Manchmal tröstete ich mich damit, daß ich wenigstens nicht auch noch eine
Brillenschlange war, aber es half nichts, meine Schüchternheit hatte ein
schreckliches, sichtbares Eigenleben entwickelt. Ich war buchstäblich sprachlos
mit meiner Maulsperre, und die meisten vermieden es ebenso krampfhaft, mich
anzuschauen, wie ich es vermied, sie anzuschauen.
Die Spange war der qualvollste
Teil meines Übergangsritus ins Land des Lateinischen, und sie tat auch
körperlich weh — jedes Verstellen war eine Folter. Die Zahnarztbesuche selbst
aber wurden zum Abenteuer. Man mußte schon sehr schiefe Zähne haben, damit der
staatliche Gesundheitsdienst die Kosten für »kosmetische« Korrekturen übernahm.
Ich war zu einem gelehrtenhaften Amtsarzt in der Harley Street in Liverpool
überwiesen worden, und um mir Mut zu machen, hatte er mir Gipsabgüsse anderer
Patientengebisse »vorher« und »nachher« gezeigt. Viele Menschen seien mit den
falschen Zähnen ausgestattet, hatte er gesagt, man erbe sie von einem Vorfahren
mit ganz anderer Kinnform, sie stünden vor oder schöben sich wie meine übereinander.
Das über Jahrhunderte
entstandene genetische Chaos in den Mündern faszinierte ihn ganz allgemein, und
als er merkte, daß ich mich gern belehren ließ, erzählte er mir schmeichlerisch
von seiner Arbeit. Meine Zähne seien im Grunde gar nicht meine eigenen, meinte
er, ich brauchte mich also nicht zu genieren — und bei ihm tat ich das auch
nicht. Das lag — auch wenn wir niemals ein Wort darüber verloren — mit daran,
daß er sehr klein war, ein Zwerg geradezu. Am Ende der Behandlung war ich mit
einssechzig größer als er. Seine Kleinwüchsigkeit verlieh den Sitzungen bei ihm
einen besonderen Reiz. Die Vorher-Nachher-Abgüsse in ihren Glaskästen, seine
lyrischen Ausführungen über die Launenhaftigkeit des menschlichen Gebisses und
das heroische Unterfangen der Regulierung, das alles paßte zu den Phasen der
Evolution des Menschen, die wir in der Schule durchnahmen — jahrtausendelange
Entwicklungsgeschichte in einem einzigen Zahnschema. So wie Dr. McColl mir
meine schlaflosen Nächte zum Geschenk gemacht hatte, so machte der Liverpooler
Zahnarzt meinen
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