Die Anfänge meiner Welt
armen Mund zu einem Symbol des Fortschritts. Außerdem war jeder
Termin bei ihm mit einer Fahrt in die Großstadt verbunden.
Wir kamen vom anderen Ufer des
Mersey, vorbei an der riesigen Fabrik der Lever Brothers in Port Sunlight. Die
gelbe Sunlight-Seife, Persil-Waschpulver und Lux-Toilettenseife wurden dort
hergestellt, und in der Luft hing ein durchdringender Gestank nach Talg und
Fett, überlagert von Karbol, abgerundet mit chemischer Gardenie. Kurz vor dem
Mersey-Tunnel mixten ein Schlachthof und eine Gerberei einen neuen
Geruchscocktail, und auf der Straße sah man Lieferwagen voller blutiger Häute
und Hufe. Dann kam die glatte Betonröhre des Tunnels und auf der anderen Seite
Liverpool mit seinen Trümmergrundstücken und Bombenkratern.
In Liverpool sah ich, was ich
bis dahin nur aus der Wochenschau kannte: Reste zerbombter Mietskasernen.
Tapeten, Feuerroste und Rohrleitungen lagen bloß, die Mauern wurden bis zum
Abriß mit Holzbalken abgestützt. Nicht weit von der Harley Street stand die
riesige anglikanische Kathedrale auf einer weiten leeren Fläche, denn ringsum
waren ganze Straßenzüge dem Erdboden gleichgemacht worden. Wenn wir früh genug
da waren, wanderten wir durch die hallenden neugotischen Kirchenschiffe. Meiner
Mutter waren sie zwar zu neu, aber immerhin waren sie so etwas wie ein Denkmal,
das an die gotische Vergangenheit erinnerte. Dann ging es weiter zu meinem
zwergenhaften Zahnarzt, in das höhlenartige Wartezimmer mit den schweren
Vorkriegsmöbeln und den Landschaftsgemälden, das Vorzimmer des »Nachher«.
Daß meine Zähne reguliert
wurden, war vor allem die Idee meiner Mutter, geboren aus ihrem Streben nach
Schönheit und ihrem Traum von einem anderen Leben. Es ging ihr nicht um
bürgerliche Konventionen; der Entschluß war ihren versponnenen Grübeleien
entsprungen, die sie auch so lange gehindert hatten, sich mit meinen Läusen zu
befassen. Im Grunde war es eine Pfarrhaus -Angelegenheit, etwas, das sie
persönlich betraf, etwas Phantastisches, dem eine verborgene Logik innewohnte.
Ihre eigenen Vorderzähne waren überkront. Sie fand, die Kronen sähen unecht
aus, und haßte sie geradezu. Wahrscheinlich erinnerten sie sie an Grandpas
abstoßende Affäre mit ihrer Freundin Marj und an den Ekel und die
Selbstzweifel, die ihr auf der höheren Schule das Leben so schwer gemacht
hatten. Und so rettete sie nicht nur mein Aussehen, sondern verschaffte mir
auch — wie sie später oft und bitter sagte — eine Chance, die sie selbst nicht
gehabt hatte. Nicht die Chance, hübsch zu sein (sie war hübsch, die Zähne
fielen gar nicht auf), und auch nicht die Chance einer guten Schulbildung —
auch die hatte sie gehabt — , sondern die Chance, ganz sie selbst zu sein. Der
Egoismus ihrer Eltern hatte sie zerstört, ich aber wurde von ihr und meinem Vater
heil gemacht, mir stand die Karriere offen, die ihr verwehrt geblieben war — in
solchen Bahnen bewegte sich ihr Denken.
Und auf lange Sicht hatte sie
recht, wenn auch nicht so, wie sie es gemeint oder gewollt hatte. Als ich älter
wurde, merkte ich, daß ich ein Doppelleben führen konnte, ein Leben in meinem
Äußeren und eines in meinem Kopf, mit einem Wort: Jungen und Latein. Das
wiederum verhalf mir zu einer gewissen Beliebtheit bei meinen
Schulkameradinnen. Man verzieh mir, daß ich kein Mädchen ohne Ecken und Kanten
war, denn ich hatte ein hübsches Gesicht und früh entwickelte Brüste, und ich
bekam schon mit elf meine Periode (ein wichtiges Statussymbol). Meine Eltern
aber sahen in mir mehr und mehr das Geschöpf meines Großvaters. Es hätte meiner
Mutter freigestanden, sich ebenfalls die Zähne richten zu lassen, aber
irgendeine Erinnerung lähmte sie. Ich sollte dieses Kapitel für sie leben, ich
sollte anders sein, und so war ich eine Art moralischer Atavismus.
Solange ich Klassenbeste war,
verübelte mir niemand meine intellektuellen Schliche. Ich gab mir alle Mühe,
diese Position zu halten. Es war ein Vergnügen, aber auch eine Frage des
Überlebens, denn die Prüfungsergebnisse waren mein Alibi. Das verstand sich
zwischen meinen Eltern und mir von selbst. Meine schulischen Leistungen
spielten sich gleichsam auf dem Hochseil ab: Solange ich mich oben hielt,
zählte mein fehlendes moralisches Gleichgewicht nicht, rutschte ich aber ab und
fiel hinunter, würde man mich sehen, wie ich wirklich war: eingebildet, unrealistisch,
egozentrisch. Ein einziger Fehltritt, und ich würde wieder ganz von vorn
anfangen müssen. Ich
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