Die Anfänge meiner Welt
Pferdeschwanz spielte da
eine besondere Rolle, denn er vertrug sich einfach nicht mit der Mütze der Schuluniform.
Man mußte entweder die Haare komplett darunter verstauen, so daß man fast kahl
wirkte, oder die alberne Kappe wie einen Pfannkuchen obendrauf befestigen (noch
mehr Haarspangen, Klammern und Clips). Da war es natürlich einfacher und auch
geschmackvoller, sie in die Tasche zu stecken. Die Strickjacke konnte man mit
der Vorderseite nach hinten anziehen, so daß sie wie ein Stehkragenpullover
aussah (und die Krawatte verbarg), und der Gürtel des Regenmantels wurde auf
Wespentaille geschnallt. Damit war die andere »Uniform« komplett, die der
Mädchen, die sich auf der Straße herumtrieben und dem Ruf der Whitchurch High
School schadeten. An vielen Nachmittagen verpaßten Gail und ich absichtlich den
Bus und nahmen einen späteren, mit dem Arbeiter der Silhouette-Miederwarenfabrik
und Verkäufer um fünf über die Grenze nach Hause fuhren. So konnten wir noch
eine Stunde länger hinter den Jungen herlaufen und so tun, als würden sie
hinter uns herlaufen, oder bei einer einzigen Plastiktasse mit grauem, schaumigem
Kaffee die blinkenden Lichter an der neuen geschweiften Musikbox betrachten.
Gail hatte die Gabe, sich ganz
in etwas zu versenken. Sie konnte müßige Momente liebkosen, als würde sie einen
jungen Hund streicheln, bis er ihr an den Finger saugte. Selbst in der Schule
sorgte sie für Abenteuer. Sie verstand sich glänzend auf die schwärmerische
Verehrung bald der einen, bald der anderen Aufsichtsschülerin. Sie suchte sich
ein schlankes, sportliches Mädchen aus, das sie dann mit ihrer sklavischen
Hingabe verwirrte. Sie folgte ihr auf Schritt und Tritt, ahmte ihren Aufschlag
beim Tennis nach, zeichnete ihr Profil an die Tafel, fragte sie nach ihrer
Lieblingsfarbe, studierte ihr Horoskop — und plötzlich übertrug sie ihre
Ergebenheit auf eine andere und ließ die erste stehen, die nun die
Aufmerksamkeiten vermißte, die ihr — so verlangten es die Regeln dieses Spiels
— vollkommen gleichgültig hätten sein müssen. Gails Schwärmereien waren so
despotisch, daß es schien, als wäre nicht sie, sondern die jeweilige Aufsichtsschülerin
die Verehrerin. Ich war ihre Vertraute und übertrieb es genauso wie sie, aber
meine Heldinnenverehrung galt nicht etwa der sommersprossigen Dina, der
Hockey-Mannschaftsführerin, oder der gertenschlanken, gelenkigen Jean — ich
schwärmte für Gail selbst, deren Intensität mich faszinierte. Sie spielte Shaws
heilige Johanna, als wir das Stück im Unterricht mit verteilten Rollen lasen,
sie war Jane Eyre, sie war Cathy (»Nellie, ich bin Heathcliff!«), sie
war die Heroine.
Später, als wir dann wirklich mit
einigen aus der Clique der Jungenschule redeten, die uns in den Cafés lärmend
ignoriert hatten, sagten sie uns, sie hätten sofort gemerkt, (a) daß wir
lesbisch seien und (b) daß Gail mich — weil ich die Verträumtere,
Kurvenreichere, Blondere war — als Lockvogel benutzte. Das überraschte und
empörte uns, aber leider aus den falschen Gründen. Wir hätten entsetzt sein
müssen über ihre haarsträubende Annahme, »lesbisch« kennzeichne eine Art
Mangel, ein t faute de mieux bei Frauen, die keine Männer haben, empört
auch über ihre Unfähigkeit sich vorzustellen, daß eine Mädchenclique (auch eine
mit nur zwei Mitgliedern) alles daransetzen konnte, es der Jungenclique mit
ihren Ritualen gleichzutun. Tatsächlich aber stimmen wir in den meisten Dingen
mit ihnen überein.
Wir hielten es auch für
selbstverständlich, daß erst Beziehungen zu Jungen und Männern uns als richtige
Frauen in der Welt etablieren würden. Unsere Fixierung aufeinander »ging
vorbei« wie etwas Irreales, und das um so problemloser, als wir uns, abgesehen
von Händchenhalten und gelegentlichem Frisieren und Nagelfeilen, nie berührten.
Alle Liebkosungen waren Finger um Finger im Händchenhalten beschlossen. Dieser
Teenager-Übergangsritus war reiner Selbstzweck: Es ging darum, vergangene und
künftige Leidenschaften, ungeliebte Eltern und Geschwister, schemenhafte
Geliebte, Ehemänner, Kinder, Liebe zu anderen und Eigenliebe vor der Zukunft zu
bewahren, in unseren Händen geborgen.
Gail und ich wollten dank des
Vorbilds unserer Eltern auf keinen Fall heiraten und Kinder bekommen. Liebe und
Ehe gehörten zusammen wie Pferd und Wagen. Die Mutter zu dem Vater spricht,
eins ohne das andre gibt es nicht. Wir wußten es besser und hielten in unserer
Vorstellung beides
Weitere Kostenlose Bücher