Die Anfänge meiner Welt
strikt voneinander getrennt. Die braven Mädchen aus Whitchurch
hielten sich unterdessen an die Spielregeln und waren überzeugt, daß Typen wie
wir, was immer wir auch sagten, das gleiche wollten wie sie und daß nur unsere
Herkunft aus Hanmer uns im Wege stand. Meine Läuse und meine Zahnspange, Gails
geschiedene Mutter und der Umstand, daß wir jeden Tag mit dem Bus die Grenze
überquerten, das alles erklärte, warum wir so überspannt zusammengluckten.
Die Mittelschicht der Stadt
wahrte ihre Eigenart, indem sie jeden, der nicht ins Schema paßte, sanft
vereinnahmte. Ein verblüffendes Beispiel dafür war eine Mitschülerin, die ich
genau im Auge behielt, weil sie bedrohlich gescheit war und in Mathematik
bestimmt besser gewesen wäre als ich, wenn ich mich nicht so ins Zeug gelegt
hätte. Sie hieß Jean Evans, ihr Vater war im Krieg gewesen und arbeitete
inzwischen wieder bei der Bahn, ihre Mutter war Kassiererin in einem besseren
Geschäft gewesen. Sie hatten wie meine Eltern kurz nach Kriegsausbruch
geheiratet und waren unauffällige, achtbare Leute. Jean war Einzelkind. So weit,
so unspektakulär. Doch Jean war schwarz. Nun ja, dunkelgelb mit einem Hauch von
rußfarbenem Flaum, und sie hatte Kraushaar, jedenfalls dort, wo es nicht
schmerzhaft straffgezogen war. Ihr Vater mußte einer von den amerikanischen
Soldaten sein, die kurze Zeit in der Nähe von Ellesmere stationiert gewesen
waren. Doch niemand in Whitchurch und erst recht niemand in der Schule bemerkte
diesen interessanten Umstand oder verlor je ein Wort darüber. Jean war das Kind
ihrer Eltern, sie ging auf die höhere Schule, und fertig. Schwarze gab es in
Whitchurch natürlich nicht, und vielleicht trug das dazu bei, ihre
Andersartigkeit unsichtbar zu machen. Hingegen gab es eine Menge »gewöhnliche«
Mädchen mit weißem Lippenstift und schwarzem Lidstrich, die in der Fabrik arbeiteten
und den ganzen Tag mit Lockenwicklern unter dem Nylonkopftuch herumliefen: Sie
waren es, die armen Weißen, gegen die man sich abgrenzen mußte.
Als Zugeständnis an aktuelle
Teenagerängste organisierte die Rektorin einen Make-up-Kurs, zu dem eine Vertreterin
der Firma Pond’s zu uns kam. Schminken war in der Schule streng verboten, aber
natürlich durften nette, normale Mädchen wie wir schon einmal davon träumen,
einen Mann wie Dad zu heiraten, und mußten die richtigen Signale aussenden,
wenn sie nicht in Uniform waren. Nach einem kurzen Vortrag über die Kennzeichen
von fettiger, trockener und Mischhaut holte die Pond’s-Dame zwei
Viertkläßlerinnen nach vorn, eine mausbraune und eine mausblonde, und machte
sich mit Grundierung, Puder, Augenbrauenstift, Lidschatten, Wimperntusche und
Lippenstift ans Werk, um zu demonstrieren, wie man als braves Mädchen sein
Rüstzeug durch Make-up ergänzen konnte. Als erstes schon einmal kein Rot, kein
Schwarz, kein Weiß und auf keinen Fall Lidstrich, statt dessen rosa Lippen,
blaue Lider und blaßbraune Augenbrauen und Wimpern. Natürliches Make-up, sagte
Mrs. Pond’s und zog den beiden ihre Nylon-Lätzchen weg. Noch mehr Maus also,
Make-up, das einen gepflegt, vorzeigbar, verletzlich aussehen ließ, solides
Make-up, das später, wenn man mit der Schule fertig war und als Sekretärin am
Schreibtisch saß, bei geschickter Auffrischung den ganzen Tag halten würde,
Make-up für die Verlobung, mit zum Lippenstift passendem rosa Nagellack
kombiniert, wenn man stolz seinen Ring herzeigte. Und vor allem vorbeugendes Make-up. Der ganz besondere rosa Farbton des Lippenstifts, der Hauch von Türkis
in dem schrecklichen Lidschatten waren Verhütungsmittel. Sie standen für
heftiges Petting, Warten, Sparen auf eine Doppelhaushälfte. Die einzige
Verhütungsmethode, zu der heranwachsende Mädchen Zugang hatten, war ein Mythos
damals im Jahr 1957, warum also nicht Pond’s Tagescreme?
Während dieser beängstigenden
Demonstration sexueller Realpolitik à la Whitchurch hielten Gail und ich uns an
den Händen. Gail kräuselte die Oberlippe, was bei ihr sehr hübsch aussah; sie
hatte ein feingeschnittenes, erwachsenes Gesicht, während sie sonst noch fast
vorpubertär war. Sie würde es nie nötig haben, die Konturen ihrer Lippen
nachzuziehen und sie mit rosa Fett auszufüllen, um sich Babys vom Leib zu
halten. Ihre Verachtung machte mir Mut, wenn ich für mich allein Variationen
meines zukünftigen Ichs durchspielte. Meine Favoriten waren grundsätzlich
utopisch. Eine meiner Phantasien stammte aus zweitklassigen
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