Die Anfänge meiner Welt
Panik schnitt ich ihm das Wort ab, indem ich die Belehrungen
über Freiheit und Verantwortung wiederkäute, die wir in der Morgenversammlung
zu hören bekamen. Ich setzte ihm auseinander, daß man erst frei sein müsse, um
überhaupt Verantwortung übernehmen zu können. Wahrscheinlich kannte ich Miltons
unsterbliche Worte von der Tugend hinter Klostermauern noch nicht, sonst hätte
ich sie bestimmt zitiert. Ich wollte nur eines: verhindern, daß er den
schrecklichen Versuch unternahm, ein »verständnisvolles« Gespräch über
Knutschen, Petting und Schlimmeres mit mir zu führen. Ich nahm einen noch
strengeren moralischen Standpunkt ein als er und machte damit jede Diskussion
darüber, was ich tat oder nicht tat, unmöglich. Ich log routiniert, überzeugend
und selbstgerecht, denn ich wollte es im Grunde selbst nicht wissen.
Tatsächlich hatte ich es noch nicht getan, aber das ging ihn nichts an, und es
hatte ohnehin nichts mit meiner persönlichen Integrität zu tun, wie er zu
glauben schien.
Vielleicht hatte er den Klatsch
über Vics Halbbruder Cyril mitbekommen. Cyril war Mitte Zwanzig, arbeitete als
Lastwagenfahrer und hatte bereits ein Mädchen in Schwierigkeiten gebracht und
eine Vaterschaftsklage am Hals. Er war eine Berühmtheit in Whitchurch. Die
Mutter der beiden, Mrs. Price, war verwitwet, als sie in den dreißiger Jahren
mit meiner Mutter bei Dudleston’s arbeitete, und von Cyril — der ebenso flott
wie gescheit war — hieß es allgemein, er sei durch die gewalttätigen
Auseinandersetzungen mit seinem Stiefvater zum Nichtsnutz geworden. Er war von
zu Hause fortgelaufen und zu seinen Großeltern gezogen, hatte die Schule
abgebrochen und war Traktorfahrer geworden. Gerade rechtzeitig für Suez war er zum
Wehrdienst eingezogen worden, aber das hatte nichts genützt: Als er aus Kairo
zurückkam, suchte er ständig Händel und etablierte sich als Verführer und
Mitglied der Arbeiterklasse. Aber die Mutter war eine alte Freundin und über
Cyrils Abwege und seinen schlechten Ruf so offensichtlich beschämt, daß meine
Eltern es nicht fertigbrachten, Vic in Bausch und Bogen abzulehnen. Immerhin
ging er weiter zur Schule, und wir alle waren (wie ich ihnen immer wieder
sagte) ständig zusammen.
Eigentlich war Gail der Anlaß
des ersten wirklich tiefgehenden Gesprächs zwischen Vic und mir, bei dem wir
einander mehr — und immer mehr, denn als wir einmal angefangen hatten, konnten
wir nicht wieder aufhören — von unseren Familien erzählten. Es war in einem
Tennisclub in Whitchurch, und wir sollten Gail helfen, Michael Price dazu zu
bringen, ein Doppel mit ihr zu spielen. Statt dessen saßen wir für uns allein
im Schatten und tauschten Kindheitserinnerungen aus, und während Gail bei
Michael wie immer kaum weiterkam, vertrauten wir uns einander rückhaltlos an.
Wir prahlten voreinander, wie grauenvoll das Leben in unserem jeweiligen
Gemeindewohnhaus sei, und rissen die Fassaden nieder, hinter denen unsere
Eltern ihr Privatleben verbargen. Das Schaurige und Absurde an Vics häuslicher
Situation war mir wunderbar vertraut. Wir stellten fest, daß wir beide mit
Verrückten geschlagen waren. Mein Trumpf waren meine Großeltern, sein Trumpf
war sein Vater. Er stammte ebenfalls aus Südwales, aus einem Nachbartal des
Rhondda-Tales, oder so gut wie — Abercynon — , und war wie Grandma klein und
dick.
Bis Dünkirchen war er
Berufssoldat gewesen, Unteroffizier, dann wurde er nach nicht ganz
zwanzigjähriger Dienstzeit, also ohne die volle Pension, wegen Untauglichkeit
entlassen. War er da schon psychisch labil gewesen, womöglich schon jahrelang,
und man hatte es beim Militär erst so spät bemerkt, hatte er auf dem Rückzug
ein Trauma erlitten, oder hatte ihn das Zivilleben in den Wahnsinn getrieben?
Eine Zeitlang merkte man nichts: Als Vic 1942 geboren wurde, war er
Angestellter im öffentlichen Dienst und kümmerte sich um Lagerbestände der
Armee. Zu Hause war er rücksichtslos und als Stiefvater ein Schinder — um einer
Tracht Prügel zu entgehen, kletterte Cyril mit elf aus dem Badezimmerfenster
und kam nie wieder zurück — , aber das war damals nichts Ungewöhnliches. Erst
in den fünfziger Jahren wurden seine Stimmungsschwankungen extremer, und eines
Tages ohrfeigte er im Büro eine Sekretärin, die seine Anweisungen nicht befolgt
hatte.
Während Michael Price aufschlug
und Gail sich an seiner Anmut ergötzte, hörte ich gebannt zu. Vics Vater wurde
fristlos entlassen, worauf der Hausarzt zu der
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