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Die Anfänge meiner Welt

Die Anfänge meiner Welt

Titel: Die Anfänge meiner Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lorna Sage
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zu glauben, denn er sah sich noch nicht recht in
einer Stellung bei einer Bank oder im öffentlichen Dienst, die seine Mutter
beglücken, ihn zu einem rechtschaffenen Menschen machen und seine Schuldgefühle
mildern würde. Wohingegen ich egoistischerweise nur davon träumte fortzugehen,
möglichst an die Universität, wo ich einem guten Geist begegnen würde, der mir
alles beibringen und mich zu einer Frau von Welt machen würde.
    So kam keiner von uns auf die
Idee, daß der andere die Lösung seiner Probleme bedeutete; es war eher so, daß
wir unser beider Misere zusammenwarfen. Wie auch immer: Vorläufig waren wir
unzertrennlich. Im Herbst vor unserem Umzug nach Sunnyside — ich war fünfzehn,
er sechzehn — brachte er mich (oft zusammen mit Gail) zum Bus und schob dabei
sein Rad, und samstags gingen wir ins Kino, wo wir uns in der letzten Reihe
balgten und Händchen hielten. Eines Novembertags brachte er mir an der windigen
Bushaltestelle bei, die Uhr zu lesen. Ich überredete ihn, aus dem Kadettenkorps
der Schule auszutreten, weil es der Vergangenheit in die Hände arbeite (wie
hielt er es nur aus, wie sein Vater zu sein?). Außerdem wollte ich nicht
mit ihm im Kampfanzug gesehen werden.
    Vor der Zukunft verschloß ich
die Augen. Ich war zwar nicht voller Unruhe und Befürchtungen wie nach der
Prüfung für die höhere Schule, doch nach dem Übergang in die sechste Klasse und
dem Umzug nach Sunnyside vermißte ich zu meiner Überraschung Hanmers holprige
Gassen und die nassen Wiesen. Ich setzte mich mißmutig in eine Astgabel und las
bei Wordsworth, daß Entfremdung von der Natur zu ertragen sei. Die Natur in
Hanmer hatte nichts Erhabenes, die einsamen Streifzüge meiner Kindheit hatten
nicht den Jubel hervorgerufen, an den sich Wordsworth erinnert. Aber ich konnte
nachvollziehen, wie befangen man sich fühlt, wenn man plötzlich ratlos in einer
Landschaft steht, die einem eigentlich bis ins kleinste vertraut ist, so als
sei sie ein Bild und man könnte nicht aus dem Rahmen heraustreten. Wordsworth
drückt die Nase an das Glas und beneidet die Toten auf dem Lande,
beispielsweise Lucy:
     
    Sie sieht kein Licht, hört
keinen Klang,
    Ist ohne Tat und Traum;
    Kreist in der Erde Tagesgang
    Mit Gräbern, Fels und Baum.
     
    Wenn ich solche Zeilen las,
beschlich mich das unheimliche Gefühl, das Buch in meinen Händen sei ein
Anti-Buch. Je mehr man über Lucy, Betty Foy und ihren schwachsinnigen Sohn, die
einsame Schnitterin oder den alten Bettler in Cumberland las und je näher man
sich ihnen fühlte, desto mehr erschien es als ein Fehler, literarisch gebildet
zu sein. Andererseits nahm ich an, daß ich in Wordsworth’ Welt wahrscheinlich
nichts als ein Höcker in der Landschaft gewesen wäre — nicht direkt tot, aber
auch nicht richtig lebendig und ganz gewiß nicht sein Anti-Buch als
Standardtext lesend.
    »Nie die Natur ein Herz betrog,
das ihr in Liebe huldigt«, schreibt Wordsworth. Beziehungsweise: »Nie die Natur
ein Herz betrog, / Das ihr in Liebe huldigt.« Dank Wordsworth entdeckte ich,
daß ich ein fotografisches Gedächtnis hatte, denn niemand sonst in der Klasse
wußte noch, an welchen Stellen in seinen Blankversen die Zäsur kam, obwohl das
Zeilenende der lebensbedrohliche Aussetzer seines Herzschlags war. Ich brauchte
nur mein inneres Auge zu befragen, und schon sah ich die Worte auf der Seite
vor mir. Wahrscheinlich schnitt ich bei Prüfungen deshalb so gut ab.
    Meine Wahrnehmung der realen
physischen Welt war weniger genau, Geräusche, Gerüche und Stimmen drängten sich
auf, und die Gegenwart verschwamm, wie die Zukunft. Ich sah den Weg vor mir
nicht. Beispielsweise wurde erwartet, daß man sich zwischen Jungen und Büchern
entschied, Sex nahm ein Mädchen völlig in Anspruch, ihr Geschlecht gehöre
mehr zu ihr als das Anhängsel eines Jungen zu ihm, Mädchen waren ihr
Geschlecht, also mußten sie ohne Sex auskommen, wenn sie genug Energie,
Selbstbeherrschung und Verstand für andere Dinge übrig haben wollten. Dieser
Logik folgten die Bezirksschulausschüsse, wenn sie einer Studentin das
Stipendium strichen, weil sie in eheähnlicher Gemeinschaft lebte, heiratete
oder schwanger wurde, denn dann handelte es sich um Verschwendung öffentlicher
Gelder. Das war es nach landläufiger Meinung allerdings auch schon vorher, denn
nach dem Studienabschluß heirateten die Mädchen, gründeten Familien und
arbeiteten, wenn überhaupt, nur halbtags, in Jobs, für die sie überqualifiziert
waren. Es gab auch

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