Die Anfänge meiner Welt
Erkenntnis kam, daß er verrückt
war. Er wurde ins Krankenhaus eingewiesen, und die Diagnose lautete auf
paranoide Schizophrenie. Die Psychiater waren sich damals ihrer Sache sehr
sicher, wenn sie einmal jemanden für geistesgestört erklärt hatten. Allerdings
hatte er auch die klassischen Symptome: Er bekam seit einiger Zeit geheime
Botschaften, denn er war Unteroffizier in einem Kommando von Außerirdischen. Im
Krankenhaus traktierte man ihn mit Elektroschocks und gab ihm
Beruhigungsmittel, und nach einigen Monaten wurde er entlassen, ohne daß sich
sein Weltbild groß geändert hätte.
Das war 1956 oder 1957, kurz
bevor ich Vic auf dem Schulball kennenlernte. Sie waren noch nicht lange in dem
Gemeindewohnhaus. Früher hatten sie größere, schönere Wohnungen gehabt, die sie
sich jetzt nicht mehr leisten konnten. Cyril, der einen Job nach dem anderen
verlor, war auch keine große Hilfe und wollte ohnehin um keinen Preis mit ihnen
unter einem Dach wohnen, und Vic mußte weiter zur Schule gehen, darauf bestand
seine Mutter. Er war ihre letzte Hoffnung, er mußte es einfach zu etwas
bringen. Und so wohnten sie am Thompson Drive in einem Haus mit dem gleichen
Wohnzimmer wie in The Arowry, doch Vics Mutter, einer begeisterten Gärtnerin,
war es bereits gelungen, den Maschendrahtzaun hinter Kletterrosen zu verstecken
und die Rabatten mit winterharten Pflanzen zu füllen. Sein Vater hatte einen riesigen
Schädel, einen langen weißen Bart und Augen wie ein biblischer Prophet. Er saß
die meiste Zeit in Pantoffeln vor dem Fernseher und sah sich Sendungen an oder
hielt Zwiesprache mit Kanal dreizehn, der für andere nur flimmerte und
rauschte, ihm jedoch geheime Botschaften übermittelte, denen er aufmerksam
lauschte.
Es ging ihm nicht besser, er
war nur ruhiggestellt, und noch immer riß er hin und wieder aus: Dann plünderte
er das gemeinsame Konto, rasierte sich und machte sich in seinem guten Anzug
mit einer Blume im Knopfloch auf den Weg nach Windsor, Sandringham oder
Balmoral. Er hatte stets ein zerknittertes Foto der jungen Queen bei der
Fahnenparade unterm Kopfkissen oder in der Tasche. Jedesmal wurde er von der
Polizei aufgegriffen und nach einem kurzen Klinikaufenthalt in den Thompson
Drive zurückgebracht. Vics Mutter fand das alles schrecklich, aber sie nahm ihn
immer wieder auf. Er war so flott und selbstbewußt gewesen, als sie sich vor
dem Krieg kennengelernt und geheiratet hatten, da konnte sie ihn jetzt nicht im
Stich lassen, auch wenn er mit dem Hochmut des Irren ihre Geduld und
Selbstaufopferung verachtete. Ihre Arbeit hielt er für unwürdig, obwohl sie
damit seinen Unterhalt und seine kleinen Annehmlichkeiten finanzierte, die
selbstgedrehten Zigaretten beispielsweise, deren Glut Löcher in seine
Strickjacke brannte.
Vics Mutter war so stoisch und
zurückhaltend, wünschte sich so sehr ein ganz normales, anständiges Leben, daß
sogar Vic manchmal wütend auf sie wurde. Sie stammte aus einer Kleinbauernfamilie,
und harte Arbeit war für sie selbstverständlich. Es war furchtbar für Vic, daß
ihre ganze Hoffnung auf ihm ruhte, und er mußte einfach ab und zu über die
Stränge schlagen. Sie lobte ihn oft, während meine Eltern nur vor Dritten stolz
auf mich waren, aber wir mußten beide gut in der Schule sein. Das allein
unterschied uns schon von den anderen, von denen meist nur erwartet wurde, daß
sie den Status quo der Mittelschicht aufrechterhielten: Wer sich zu sehr ins
Zeug legte, galt in Whitchurch als Außenseiter und wurde verdächtigt, nach
Höherem zu streben. So brachten unsere Familien uns ungewollt zusammen, dabei
war aus ihrer Sicht ein Freund beziehungsweise eine Freundin das letzte, was
wir brauchten, schon gar, wenn es jemand aus derselben Schicht war. Aber es war
zu spät. Als an diesem Tag die Sonne über den Tennisplätzen unterging und Gail
zum Abschluß einen einsamen Übungsball ins Netz schmetterte, hatten wir bereits
eine magische Ähnlichkeit zwischen uns entdeckt. Selbst die Sache mit dem
ererbten falschen Gebiß hatten wir gemeinsam. Vic hatte zuwenig zweite Zähne
bekommen, seine Kusine Sheila dagegen viel zu viele; und ich konnte ihm
gestehen, daß ich einmal eine Spange hatte tragen müssen.
Er war mir ähnlicher als Gail:
Er war chronisch unsicher und konnte es kaum erwarten, erwachsen zu werden und
sich aus seiner demütigenden Abhängigkeit zu befreien. Seine
Zukunftsvorstellungen waren realistischer als meine, was es ihm allerdings
nicht leichter machte, an sie
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