Die Angebetete
wirklich ein Tod durch Ertrinken gedroht, allenfalls eine leichte Unterkühlung. Und sogar die blieb aus.
Nun saß Kayleigh auf ihrem Bett und las ein weiteres Mal Bobbys Brief durch, in dem er seinen Wunsch zum Ausdruck brachte, der größte Teil seiner Habe möge an Mary-Gordon gehen, einige wenige Dinge auch an Kayleigh. Sie wusste nicht, ob dieser Brief die gleiche legale Geltung wie ein Testament besaß, aber falls sie damit zu einem Anwalt ging, würde unter Umständen öffentlich bekannt werden, wer Mary-Gordons leibliche Eltern waren.
Bishop würde explodieren. Und die Fans? Würde Kayleigh sie verlieren? Sie konnte aufrichtig sagen, dass ihr in ihrer gegenwärtigen Verfassung beides ziemlich gleichgültig war.
Doch es bestand außerdem die Gefahr, dass Mary-Gordon davon Wind bekam. Irgendwann würde sie es natürlich erfahren müssen. Aber noch nicht jetzt, in diesem Alter. Suellyn war ihre Mutter und Roberto ihr Vater. Kayleigh würde nie in Erwägung ziehen, so massiv in das Leben des Mädchens einzugreifen. Sie verstaute den Umschlag in der obersten Schublade ihrer Kommode. Es würde ihr schon irgendwie gelingen, dafür zu sorgen, dass die Kleine bekam, was ihr leiblicher Vater ihr hinterlassen hatte.
Ja, im Hinblick auf Bobby und Mary-Gordon war es zu spät für Kayleigh. Aber es war noch nicht zu spät für das Leben, von dem sie träumte. Einen Mann finden, heiraten, viele weitere Kinder bekommen, Musik auf der Veranda spielen – und hin und wieder ein paar Konzerte geben.
Am Anfang von all dem stand jedoch eine winzige Kleinigkeit: »einen Mann finden«.
Seit Bobby hatte es keinen mehr gegeben, für den sie wirklich viel empfunden hatte. Sie war damals zwar erst sechzehn gewesen, aber sie hatte für sich erkannt, dass die Liebe in jenem Alter der beste Maßstab war, den man sich wünschen konnte: am reinsten, am ehrlichsten, am unkompliziertesten.
In ihrem Kopf erklang eine Note. Ein Cis, gefolgt von fünf anderen Tönen und begleitet von einem Satz: »How I Felt At Sixteen.«
Sie sang es.
Ein gutes Metrum, und es reimte sich viel auf »sixteen«. Das war sehr wichtig, wenn man Lieder schrieb: Was sich worauf reimte. »Orange« war zum Beispiel kein Wort, mit dem man eine Zeile beendete. »Silver« war ebenfalls knifflig, wenngleich Kayleigh es geschafft hatte, das Wort in einem Song ihres aktuellen Albums unterzubringen.
Sie setzte sich an die Frisierkommode, die ihr hier im Schlafzimmer als Schreibtisch diente. Dann nahm sie einen gelben Notizblock und einige Blätter Notenpapier zur Hand. Bereits nach drei Minuten hatte sie die Melodie und einige Teile des Textes aufgeschrieben.
I still recall how I felt at sixteen.
You were a king and I was your queen.
Love was so simple, way back when,
I wish life could be like that again,
when I was sixteen.
Ich weiß noch, wie ich mich mit sechzehn gefühlt habe.
Du warst ein König, und ich war deine Königin.
Die Liebe war so einfach damals,
ich wünschte, das Leben könnte wieder so sein
wie zu der Zeit, als ich sechzehn war.
Oh, Bobby …
Kayleigh weinte volle fünf Minuten lang. Dann nahm sie sich noch mehr Papiertücher und trocknete sich das Gesicht ab. Sie hatte diese Woche schon fast zwei ganze Schachteln aufgebraucht.
Okay, genug jetzt.
Sie drehte ihren iPod Player auf und wählte die Loretta-Lynn-Wiedergabeliste aus.
Im Badezimmer füllte sie die Wanne, steckte sich das Haar hoch und zog sich aus. Dann versank sie im tiefen Wasser und lauschte der Musik.
Es fühlte sich herrlich an.
63
Sie hatten ihre Antwort.
Dance, Dennis Harutyun und Pike Madigan waren in dem winzigen Apartment von Alicia Sessions und betrachteten die Beweise, die sie soeben gefunden hatten. Nadelspitz zulaufende Cowboystiefel wie diejenigen, die die Spuren hinter Edwins Haus hinterlassen hatten. Und in der Küche gab es Klauenöl zur Pflege von Sattel- und Zaumzeug; Dance erinnerte sich an den Pferdeaufkleber an der Stoßstange von Alicias Wagen und ihre Vorliebe für das Reiten. Hier lagen mehrere Stangen Marlboro herum. Und die Wohnung befand sich im Tower District, unweit des Hotels, von dem aus die E-Mail an den Radiosender geschickt worden war.
Doch weitaus belastender waren zwei Müllsäcke voll mit Edwin Sharps Abfall, gestohlen hinter seinem Haus in Fresno. Darunter befanden sich Quittungen und einige Briefe, die an seine Anschrift in Seattle adressiert waren – um sie bei Kayleigh zu hinterlassen und die Polizei und die Geschworenen davon zu
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