Die Angebetete
daraufhin zu Kayleigh gesagt hatte.
Oder ein fanatischer Fan.
Er hatte sich wahrscheinlich verschiedene Szenarien für die »Rettung« von Kayleigh Towne zurechtgelegt – je nachdem, wo im Haus die Sängerin sich aufhielt, wenn er eintraf. Wäre sie im Erdgeschoss oder auf der Veranda gewesen, hätte der Kampf mit Alicia sich vielleicht in der Auffahrt oder vorn am Straßenrand zugetragen. Doch bei seiner Ankunft hatte er von Weitem feststellen können, dass sie im Schlafzimmer war. Dadurch hatte er die Gelegenheit, ins Haus einzudringen und sich als Alicia auszugeben – natürlich unter kräftiger Mitwirkung von Dance, die Kayleigh angerufen und aufgefordert hatte, sich im Obergeschoss zu verbarrikadieren.
Und Edwins Verletzung? Tja, da er sich schon wieder so gut bewegen konnte, mochte die Schussverletzung dramatisch gewirkt haben, ohne wirklich kritisch zu sein.
Die Kugel hat Halsschlagader und Wirbelsäule verfehlt …
Dance zog ein Stück Haut von ihrem eigenen Hals weg. Ja, er hätte sich mühelos selbst eine Schusswunde beibringen können, ohne etwas Lebenswichtiges zu treffen.
Sie versuchte, eine Erklärung für die restlichen Spuren zu finden, die noch nicht zugeordnet werden konnten.
Als Erstes fiel ihr der Knochenstaub ein.
Menschlicher Knochenstaub.
Die Plektren! Die waren nicht aus einem Rehgeweih hergestellt, sondern aus der Hand von Frederick Blanton, dem Filesharer – die war nämlich keineswegs zu Asche verbrannt; Edwin hatte sie ihm abgetrennt, bevor er das Feuer in dem Schuppen gelegt hatte. Als er behauptete, er habe Kayleigh die Plektren bereits einmal zugeschickt, war das gelogen. Doch woher sollte sie das wissen? Ihre Assistentin hatte alle seine Sendungen zurückgehen lassen, vermutlich sogar ungeöffnet.
Eine grausige Form von ausgleichender Gerechtigkeit; die Sängerin benutzte Plektren aus den Knochen des Mannes, der ihre Musik gestohlen hatte.
Es war eine abenteuerliche Theorie. Aber …
Mir reicht sie aus, entschied Dance und wählte Kayleighs Nummer. Vergeblich. Sie hinterließ eine Nachricht, in der sie ihren Verdacht schilderte. Dann rief sie Bishop Towne an und teilte auch ihm ihre Vermutung mit.
»Ach du Scheiße«, knurrte der Mann. »Sie sitzt gerade mit ihm beim Mittagessen! Sheri war wegen der Probe im Kongresszentrum. Kayleigh ist vor einer Stunde aufgebrochen, um sich mit ihm zu treffen.«
»Wo?«
»Äh, keine Ahnung. Warten Sie.«
Nach unerträglich langer Zeit kam er wieder an den Apparat. »Im San Joaquin Diner an der Dritten Straße. Werden Sie …«
»Falls sie sich bei Ihnen meldet, soll sie mich sofort anrufen.« Dance trennte die Verbindung und überlegte, ob sie den Notruf oder die Nummer des Sheriff’s Office wählen sollte. Was von beidem würde die kürzere Erklärung erfordern?
Sie entschied sich.
»Madigan«, ertönte die Stimme.
»Chief, hier ist Kathryn. Ich erklär’s Ihnen später, aber ich glaube, dass doch Edwin unser Täter ist.«
»Was?« Sie hörte das Geräusch, mit dem der Pappbecher Eiscreme hingestellt wurde. »Aber … was ist mit Alicia?«
»Später. Hören Sie. Er und Kayleigh sind im San Joaquin Diner. An der Dritten Straße. Schicken Sie unverzüglich einen Streifenwagen hin.«
»Ich kenne den Laden, klar. Ist er bewaffnet?«
»Wir wissen von keiner weiteren Schusswaffe, aber das muss nichts heißen. Man kann sich in diesem Staat leicht eine neue besorgen.«
»Verstanden. Ich melde mich gleich wieder.«
Dance lief in ihrem Zimmer auf und ab und eilte dann zu dem Schreibtisch, auf dem ihre Aufzeichnungen zu dem Fall lagen. Es waren mehrere Dutzend Seiten. Falls das einer ihrer eigenen Fälle gewesen wäre, vor allem bei einer gemischten Einsatzgruppe, hätte sie die Unterlagen längst geordnet und mit einem Inhaltsverzeichnis versehen. Doch da der Fall vermeintlich abgeschlossen gewesen war und andere das Material für die Staatsanwaltschaft aufbereiten würden, hatte sie sich noch nicht darum gekümmert. Nun breitete sie alles auf ihrem Bett aus – ihre Vernehmung der Zeugen, die Beweismittel, die Lincoln Rhyme und Amelia Sachs untersucht hatten, die Notizen aus dem Gespräch mit Edwin.
Doch wie sich herausstellte, brauchte Kathryn Dance nicht länger nach Hinweisen darauf zu suchen, ob Edwin der Täter war oder nicht.
P. K. Madigan rief zurück und klang ungewöhnlich konsterniert. »Sie und Edwin haben den Imbiss vor einer halben Stunde verlassen«, platzte es aus ihm heraus. »Aber ihr SUV steht immer noch auf
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