Die Angebetete
Irgendwas läuft hier falsch. Hör zu, du musst irgendwo wohnen. Dein Haus ist halb abgebrannt. Du könntest bei mir bleiben, bis alles repariert ist.«
Meinte er das im Ernst?
Sie fuhr herum und wollte weglaufen. Aber seine riesige Hand legte sich auf ihr Gesicht und drückte fest zu. Sein anderer Arm umklammerte ihre Brust. Er zerrte sie zum Heck seines Buick und öffnete den Kofferraum. Sie bekam keine Luft mehr. Ihr wurde schwarz vor Augen. Sie hörte eine Stimme – oder glaubte zumindest, sie zu hören –, die flüsternd sang: »Always with you, always with you, your shadow.«
70
Kathryn Dance warf ihr Telefon nicht wie eine Münze aufs Bett.
Sie beschloss, die San-Diego-Situation wie eine Erwachsene anzugehen. Daher stand sie auf, ließ das Telefon Bolings Nummer wählen und trank den letzten Rest Kaffee aus ihrem Starbucks-Pappbecher.
Als Bolings Telefon zum ersten Mal klingelte, war ihr Blick auf den Abfalleimer des Motelzimmers gerichtet.
Zum zweiten Mal.
Zum dritten Mal.
Sie trennte hastig die Verbindung.
Nicht, weil sie im letzten Moment die Nerven verloren hatte; nein, ihr war ein anderer Gedanke gekommen.
Von A nach B nach Z …
Wie hatte Edwin Sharp wissen können, dass Alicia Sessions seinen Müll gestohlen hatte?
Denn das hatte er im Krankenhaus gesagt. Allerdings hatte Dance diesen Umstand nie erwähnt. Sie hatte nur erklärt, Alicia habe ein paar Dinge aus seinem Haus bei sich gehabt. Von den Müllsäcken in ihrer Wohnung war nie die Rede gewesen.
Immer langsam, ermahnte sie sich. Denk nach.
Konnte er irgendwie anders davon erfahren haben? Nein, ausgeschlossen. Gestern Abend bei Kayleighs Haus war er die meiste Zeit bewusstlos gewesen, und nur die Sanitäter hatten mit ihm gesprochen, weder Madigan noch Harutyun, die einzigen anderen, die von dem Müll wussten. Und im Krankenhaus waren Kayleigh und Dance seine ersten Besucher gewesen.
Konnte er einfach eine logische Schlussfolgerung gezogen haben? Wenn Alicia etwas aus seinem Besitz hatte deponieren wollen, hatte es Sinn, dass sie es aus dem Abfall gefischt hatte.
Durchaus möglich.
Doch eine andere mögliche Erklärung lautete, dass Edwin die beiden Müllsäcke in Alicias Apartment zurückgelassen hatte, dazu die vermeintlich von ihr gefälschten Briefe, die in Wahrheit von seiner Hand stammten. Und auch die Spuren hinter seinem Haus konnten von ihm selbst gelegt worden sein, sowohl das Klauenöl als auch der Stiefelabdruck, um Alicia als diejenige zu belasten, die ihn angeblich ausspioniert hatte.
Nein, nein, das war absurd. Was war mit den Schüssen in Kayleighs Haus? Das musste Alicia gewesen sein.
Wirklich?
Geh das Szenario noch einmal durch, dachte Dance. Was hatte Kayleigh ihr, Madigan und Harutyun über den gestrigen Abend erzählt?
Bestand die Möglichkeit, dass Edwin die Sache eingefädelt hatte?
Denk nach.
Von A nach B nach Z …
Komm schon, du versetzt dich andauernd in irgendwelche Killer hinein. Mach es. Wie hättest du das angestellt?
Und die Ideen nahmen Gestalt an.
Er geht zu Alicia und fesselt sie. Dann platziert er seinen eigenen Abfall in der Wohnung, dazu Gabriel Fuentes’ Pistolenkoffer und die gefälschten Briefe. Mit Alicias Telefon schickt er Nachrichten an Kayleigh und an sich selbst und schlägt darin ein Treffen bei Kayleigh zu Hause vor. Dann geht er zu dem Hotel in der Nähe von Alicias Apartment und benutzt ihren Computer, um die E-Mail mit dem Musikwunsch an den Radiosender zu verschicken.
Aber bei Kayleighs Haus hatten zwei Wagen gestanden. Seiner und der von Alicia. Nun, vielleicht bezahlt er einen Teenager oder Landarbeiter dafür, mit dem Buick zu Kayleighs Adresse zu fahren, dort auf dem Seitenstreifen zu parken und zu verschwinden. Er selbst fährt mit Alicias Pick-up dorthin, während sie gefesselt auf der Rückbank liegt. Oder womöglich war sie da schon tot – bei einem stark verbrannten Leichnam wäre der Todeszeitpunkt noch nah genug dran.
Aber Kayleigh hat gehört, wie Alicia im Haus ihren Namen gerufen hat.
Ein Rekorder!
Edwin könnte sie in ihrer Wohnung dazu gebracht haben, diverse Sätze in das Mikrofon eines hochwertigen digitalen Rekorders zu sprechen – dasselbe Gerät, mit dem er »Your Shadow« abgespielt hatte, um die Morde anzukündigen.
Mit geschlossenen Augen hätte man nicht unterscheiden können, ob da leibhaftig jemand singt oder ob eine digitale Aufzeichnung abgespielt wird. Nur Profis besitzen Rekorder dieser Güteklasse.
Dance wusste noch, was sie
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