Die Angebetete
Großraum Seattle. Ich muss eine Zeugin befragen und habe keine Zeit, selbst hinzufahren. Es muss sofort geschehen.«
»Geht das nicht telefonisch?«, fragte Grabe.
»Das habe ich schon versucht. Es hat nicht funktioniert.«
72
Tja, dachte Kathryn Dance beim Blick auf den Computermonitor. Sieh sich das einer an.
Die Frau dort, die aus Seattle via Skype mit ihnen verbunden war, hätte Kayleigh Townes Schwester sein können.
Kein eineiiger Zwilling, aber ziemlich nah dran. Glattes blondes Haar, zierliche Statur, ein langes, hübsches Gesicht.
Sally Docking, Edwins Exfreundin, starrte nervös in die Kamera. »Diese Leute«, sagte sie mit zitternder Stimme. »Ich verstehe das nicht. Ich habe doch nichts Falsches getan.« Hinter ihr standen zwei FBI -Agenten im Wohnzimmer ihres Apartments in Seattle.
Dance lächelte. »Ich habe die Kollegen lediglich gebeten, einen Computer zu Ihnen zu bringen, damit Sie und ich uns noch mal unterhalten können.«
Genau genommen waren die beiden Agenten da, weil Dance nicht geglaubt hatte, dass Sally freiwillig an einem Skype-Gespräch teilgenommen hätte.
Dance klang ganz zwanglos, obwohl sie es mehr als eilig hatte. »Sie haben nichts zu befürchten. Vorausgesetzt, Sie sagen mir die Wahrheit.«
Nicht »Sie sagen mir diesmal die Wahrheit«. Das wäre zu offensiv gewesen.
Kathryn Dance war eine Unstimmigkeit aufgefallen – gewisse Dinge passten nicht zusammen. Nachdem Edwin Sharp nun als Täter feststand, erschien sein Verhalten Sally Docking gegenüber nicht mehr glaubwürdig. Ihre Schilderung der Beziehung mit Edwin hatte am Telefon halbwegs überzeugend geklungen, aber eine Kinesikexpertin muss ihr Gegenüber sehen , nicht nur hören, um einen Täuschungsversuch zu erkennen.
Daher hatte Amy Grabe die FBI -Dienststelle Seattle verständigt und zwei Agenten zu Sallys Wohnung in einem Arbeiterviertel der Stadt geschickt. Die beiden brachten einen überaus kostspieligen Laptop mit, der mit einer hochauflösenden Webcam ausgestattet war.
Dance saß in einem Besprechungsraum des Sheriff’s Office. Die Deckenbeleuchtung war ausgeschaltet, aber in der Nähe ihres Gesichts brannte eine Schreibtischlampe. Kathryn hatte den Lichtkegel sorgfältig eingestellt; Sally sollte ihr Gesicht deutlich erkennen können – und die Beleuchtung sollte bedrohlich wirken. Sallys Gesicht wurde lediglich durch das Tageslicht der Umgebung erhellt, aber die Kamera und die Software brachten daraus ein erstklassiges Bild zustande.
»Die Wohnung sieht hübsch aus, Sally.« Dance trug ihre harmlos erscheinende Brille mit dem rosafarbenen Gestell, im Gegensatz zu der metallen oder schwarz geränderten »Raubtierbrille«, die sie aufsetzte, wenn sie aggressiv wirken wollte.
»Ja, ich glaube, sie ist ganz okay. Mir gefällt sie jedenfalls. Und die Miete ist günstig.«
Dance stellte Sally einige Fragen über ihr Leben, ihre Familie und ihren Job, um eine Verhaltensnorm zu etablieren. Dabei fiel ihr nur ein einziges Mal ein winziger Anflug von Stress auf, als Sally sagte, es störe sie nicht, jeden Tag fast fünfundzwanzig Kilometer zu ihrer Arbeitsstelle im Einkaufszentrum zu pendeln.
Gut, sie bekam ein Gefühl für die Frau, die auch dann nervös und verunsichert wirkte, wenn man ihr einfache Fragen stellte, auf die sie wahrheitsgemäß antwortete.
Nach zehn Minuten sagte Dance: »So, ich würde nun gern ein weiteres Mal über Edwin reden.«
»Alles, was ich Ihnen erzählt habe, war die Wahrheit!« Ihr Blick bohrte sich in die Kamera.
Das war ungeschickt: die eigene Aufrichtigkeit zu beteuern, obwohl niemand das Gegenteil behauptet hatte. Dance durfte sich nichts anmerken lassen, um der Frau keine Anhaltspunkte zu liefern. Ruhig fuhr sie fort: »Nun, wir führen häufig Folgegespräche, um weitere Informationen zu erlangen, nachdem sich Änderungen ergeben haben. Das ist alles.«
»Oh.«
»Wir brauchen Ihre Hilfe, Sally. Wissen Sie, die Lage hier in Fresno ist … kompliziert. Edwin könnte in größerem Ausmaß an einer Straftat beteiligt gewesen sein, als es ursprünglich den Anschein gehabt hat. Ich fürchte, er macht gerade eine schlimme Phase durch und könnte jemandem Schaden zufügen. Oder sich selbst.«
»Nein!«
»Leider ja.« Dance hatte dafür gesorgt, dass nach außen hin niemand auch nur eine Silbe über die Entführung verlauten ließ. Sally Docking konnte nichts davon wissen. »Und wir müssen ihn finden. Wir müssen wissen, wo er sich aufhalten könnte, welche Orte ihm wichtig
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