Die Angst des wei�en Mannes
erwähnten Großoffensive aus, eroberte die meisten Dörfer des Mekong-Deltas im Handstreich, trug die Guerrilla bis in den Stadtkern von Saigon und in den Garten der amerikanischen Botschaft vor. Gleichzeitig erstürmten im Zentralabschnitt reguläre nordvietnamesische Regi menterdie alte annamitische Kaiserstadt Hue. Sie konnten von den US Marines nur unter schweren Verlusten aus dem festungsähnlichen Palast vertrieben werden.
Die Tet-Offensive endete mit einer fürchterlichen Niederlage der kommunistischen Partisanen, deren Kaderstrukturen aus dem Un tergrund aufgetaucht waren und sich selbst enttarnt hatten. Nach Einsatz der gigantischen amerikanischen Übermacht, der Auslö schung zahlloser Ortschaften durch die US Air Force fand eine un erbittliche Repression statt, der die meisten politischen Kommis sare des Vietcong zum Opfer fielen. »Wir mußten die Stadt Bentre vernichten, um sie zu retten«, lautete der Satz des zuständigen ame rikanischen Offiziers. Dieses Zitat aus meinem damaligen Lagebe richt wurde seitdem hundertmal plagiiert.
Dennoch war das Massaker an der »Südvietnamesischen Befrei ungsfront«, wie der Vietcong sich offiziell nannte, eine politische Katastrophe für die Kriegführung Lyndon B. Johnsons. Von nun an übernahm Hanoi das direkte Kommando. Die amerikanische Öf fentlichkeit, vor allem die Studenten, die vor der Einberufung stan den, entdeckten, daß dieser verspätete Kolonialeinsatz gegen eine Bande kommunistischer Zwerge in einen fatalen Abnutzungskrieg einmündete. Mit einem Schlag schwand unter dem Eindruck der Antivietnam-Psychose, die von den USA auch auf Deutschland übergriff, der Siegeswille, und die bis dahin intakte Kriegsmoral der US Army brach zusammen.
Ich habe den plötzlichen Meinungsumschwung bei so vielen deutschen Intellektuellen, die bislang in ihrer Ignoranz hemmungs los auf einen schnellen Waffenerfolg Amerikas eingeschworen wa ren und nunmehr ihre Bündnistreue wie einen alten Hut fortwar fen, stets als schändlichen Opportunismus empfunden, zumal sie jetzt zu dem Gegröle »Ho-Ho-Ho Tschi Minh« durch die Städte der Bundesrepublik und West-Berlin stürmten.
Zutiefst erschüttert war Johnson vor die Kamera getreten und teilte seinem Volk mit, daß er für die anstehende neue Präsidentenwahl als Kandidat nicht zur Verfügung stehe. Der ihm nachfolgende Commander-in-Chief, Richard Nixon, war Realist und Zyniker, kurzumder Mann, den die Stunde brauchte. Mit Hilfe Henry Kissingers vollzog er eine historische Entscheidung, die längst fällig, aber innenpolitisch hochriskant war.
Im Jahr 1972 erkannte er die Volksrepublik China an und reiste zu Mao Zedong nach Peking. Von nun an war sein Bestreben nur noch darauf gerichtet, den Rückzug aus dem indochinesischen »Quagmire«, wie David Halberstam es nannte, möglichst schnell anzutreten. Daß er und sein kluger Außenminister dabei die Ver nichtung Kambodschas anstifteten und die südvietnamesischen Verbündeten nach endlosen, irreführenden Verhandlungen den Erben Ho Tschi Minhs ans Messer lieferten, konnte einem Mann nichts anhaben, der zwar nach dem Watergate-Skandal als »Böse wicht« in die amerikanische Geschichtsschreibung eingehen sollte, aber vermutlich zu den wenigen Realpolitikern der USA in diesem Jahrhundert zählt.
Die aussichtslose Verstrickung in einen endlosen, verlustreichen Dschungelkrieg hatte es Nixon erlaubt, das kommunistische Reich der Mitte in eine angespannte, stets prekäre Partnerschaft mit Wa shington einzubeziehen. Angesichts der Tatsache, daß es den roten Mandarinen von Peking nach dem Tod des »Großen Steuermanns« gelang, in einer Spanne von nur dreißig Jahren zur kraftstrotzen den, dynamischen Weltmacht aufzusteigen, erscheint im Rückblick das amerikanische Debakel von Saigon eben doch als ein Meilen stein der modernen Geschichte.
Karikatur einer Demokratie
Der befürchtete Dominoeffekt ist nach dem unrühmlichen Abzug der US Army aus Indochina bekanntlich nicht eingetreten. Weder Thailand noch Malaysia oder Burma wurden von dem Triumph und der Wiedervereinigung Vietnams unter kommunistischem Vorzeichen im geringsten tangiert und schon gar nicht die Philip pinen.Dort stellten die isolierten Aufstandsherde der marxistisch ausgelegten New People’s Army keine nennenswerte Gefahr für die Regierung von Manila mehr dar. Aber Präsident Marcos und seine überwiegend weiblichen Nachfolger im Malacañang-Palast sahen sich mit der sich stetig versteifenden Aufstandsbewegung
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