Die Angst im Nacken - Spindler, E: Angst im Nacken
verletzt er sich fühlte.
Sie stieg die Außentreppe hinauf, betrat das Haus und ging auf seine Praxisräume zu. Die waren offen. Bei ihrem Eintreten läutete die Glocke über der Tür und verkündete Besuch.
Der Warteraum war leer, die Tür zu seinem Büro nur angelehnt. Tief durchatmend klopfte sie an und trat ein.
Ben saß an seinem Schreibtisch, auf dem sich Berge von Büchern stapelten. Die schweren Vorhänge waren zugezogen, und das Sonnenlicht schimmerte nur an den Außenrändern vorbei. Die Halogenlampe auf dem Schreibtisch war die einzige Beleuchtung und schuf eine unheimliche Atmosphäre aus punktueller Helligkeit und tiefem Schatten.
„Ben?“
Er blickte auf, und sie sah entsetzt, wie krank er wirkte. Das Gesicht war eingefallen, die Haut kalkweiß. Sie machte einige Schritte ins Zimmer. „Alles in Ordnung mit dir?“
Da er nicht antwortete, ging sie zu ihm und merkte, dass seine Augen rotgerändert und glasig waren, als hätte er Fieber. Er sah nach tagelangem Schlafentzug aus. „Ben, mein Gott, was ist passiert?“
Er blinzelte einige Male und befeuchtete sich die Lippen. „Ich war neulich vor deiner Wohnung. Ich wollte … ich habe dich mit Quentin Malone gesehen.“
„Ich weiß.“ Sie senkte kurz den Blick. „Ein Nachbar hat dich bemerkt, und ich … ich wollte mit dir darüber reden.“
„Liebst du ihn?“
Gute Frage. Eine, die sie nicht beantworten konnte. „Ich habe Gefühle für ihn … starke Gefühle.“
Er sah zur Decke, und ein Frösteln durchrann ihn. „Das will ich doch hoffen“, sagte er leise und sah sie wieder an. „Schließlich vögelt ihr.“
Schockiert wich sie unwillkürlich zurück. „Ich glaube, es ist nicht nötig, in dieser Ausdrucksweise …“
„Erzähl mir nicht, was nötig ist!“ Er schlug die Faust mit solcher Wucht auf die Schreibtischplatte, dass die Lampe flackerte. „Hast du ihn an dem Tag etwa nicht gevögelt? Wenn ich etwas beharrlicher gewesen wäre, hättest du mich vielleicht auch …“
„Hör auf!“ Anna schlug entsetzt eine Hand vor den Mund. Sie konnte nicht fassen, dass Ben derart vulgär mit ihr sprach. „Es tut mir Leid, wenn ich dich verletzt habe. Das war nicht meine Absicht. Und ich hatte auch nicht vor, mich mit Quentin einzulassen. Es … ist einfach passiert. Ich weiß nicht, was ich dir sonst sagen kann. Auf Wiedersehen, Ben.“
Sie machte kehrt und ging rasch zur Tür, um nur ja hier wegzukommen. Trotzdem sah sie sich noch einmal um. Ben saß zusammengesunken da, den Kopf in den Händen.
Etwas stimmt nicht mit ihm. Er ist krank, er hat Fieber. Sonst hätte er nie so mit mir gesprochen, da bin ich mir sicher. So gut kenne ich ihn.
„Ben?“
Deprimiert hob er den Kopf. „Ich hätte mich in dich verlieben können, Anna. Ich war auf dem Weg dahin. Und ich dachte … du würdest mich auch lieben.“
„Tut mir Leid.“ Sie streckte bittend eine Hand aus. „Ich hatte das mit Malone nicht beabsichtigt. Es ist einfach so gekommen.“
„Glaubst du, das macht es mir leichter?“
Sie sah, dass die Hand, die er an die Stirn legte, zitterte. Besorgt ging sie vorsichtig zu ihm zurück. „Du siehst nicht gut aus, Ben. Ich glaube, du bist krank. Du hast bestimmt Fieber.“ Er sah sie verständnislos an, und sie streckte erneut eine Hand aus. „Du hast Fieber“, beharrte sie freundlich. „Warum legst du dich nicht hin? Ich hole dir eine Fiebertablette und rufe den Arzt.“
Einen Moment sah es aus, als würde er nachgeben, doch er schüttelte den Kopf. „Ich kann nicht. Ein Patient … ich muss … helfen.“
„Aber du bist krank, Ben, du brauchst …“
Das Telefon klingelte. Zögernd nahm Ben den Hörer ab. Sie merkte sofort, dass der Anruf von einem Patienten kam. Nach einem Moment drehte Ben sich mit seinem Sessel um.
Sie senkte den Blick, und ihr fiel auf, dass sich nicht nur Bens Äußeres verändert hatte. Sein Schreibtisch war voll gepackt mit Fachbüchern, medizinischen Journalen und Fachbeiträgen. Sie überflog die Titel. Sie handelten von Schizophrenie, multipler Persönlichkeit und posttraumatischem Stress-Syndrom. Einiges hatte schon Eselsohren, anderes war ganz neu.
Anna sah sich allgemein in dem Raum um, der so unordentlich wirkte, als hätte Ben rund um die Uhr gearbeitet, ohne zu essen und zu schlafen.
Angeblich brauchte ein Patient seine Hilfe. Aber was konnte so dringend sein, dass er trotz seiner Erkrankung arbeitete?
Anna kam näher. Vor ihm lag ein aufgeschlagenes Notizbuch. Sie verrenkte
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