Die Ankunft
Warnung. Die solltest du dir anhören – oder ansehen.«
»Aber es ist schrecklich, immer jemanden im Traum sterben zu sehen. Ich will das nicht!«
»Heute hast du deine Freundin retten können. Wenn du es nicht geträumt hättest, wäre sie vielleicht jetzt wirklich tot.«
»Ich will aber nicht immer mit diesen Bildern in meinem Kopf aufwachen, schreiend und panisch, und danach jeden anrufen, ob er noch lebt.«
Er hob seine Hand und strich sanft über meinen Arm. »Es tut mir leid, dass du das durchmachen musst. Und ich kann verstehen, dass diese Vorhersehungen dich erschrecken. Doch ich denke, diese Gabe kam nicht von ungefähr. Du kannst damit Leben retten. Aber ich helfe dir, wenn du das möchtest.«
»Wie denn? Doch mit Schlaftabletten?« Ich blickte hoffnungsvoll zu ihm auf.
Er schüttelte den Kopf. »Wenn du willst, bin ich da, wenn du aufwachst. Dann sind die Bilder in deinem Kopf vielleicht nicht mehr ganz so schlimm.«
Bei diesem Angebot hielt ich für einen winzigen Moment den Atem an. »Das würdest du tun?«
»Sehr gern.«
Ich sah zu dem alten Bettgestell im Nebenzimmer. »Kann ich heute hier schlafen?«, fragte ich leise.
Er nickte.
Zusammen gingen wir zu dem schmalen Bett, das gewaltig knarrte, sobald man sich darauf setzte. Ich musste laut auflachen, als ich mich hinlegte und es dabei klang, als würde eine Schar Krähen darunter ein Wettsingen üben. Robert löschte das Licht im Haus und legte sich zu mir, was noch einmal die Krähen mobilisierte. Dann lagen wir da, einander zugewandt und sahen uns an. Er strich mit der Hand zart über meine Wange.
»Sehe ich in deinen Augen sehr schlimm aus als Vampir?«
»Ich gewöhne mich langsam dran. Und wenn ich nicht genau hinschaue, ist es ganz okay. Wusstest du, dass Leif einer von euch ist? Könnt ihr euch untereinander erkennen?«
»Meistens. Leif wusste sofort, wer ich bin, deshalb wollte er mich vertreiben. Er befürchtete, ich könne ihn verraten. Ich war mir bei ihm nicht so sicher, er hat sich sehr gut an die Menschenwelt angepasst. Aber durch seine Angst wurde es mir dann klar.«
»Weißt du, wer das kleine Mädchen umgebracht hat?«
»Nein, ich habe keine Ahnung.«
»Ich hoffe, wir werden den Mörder finden.« Ich wurde langsam schläfrig, meine Sprache schleppend.
»Er wird sich schon verraten. Gute Nacht, Moona«, flüsterte Robert. »Träum was Schönes.«
»Gute Nacht.«
Ich schloss die Augen. Nur wenige Minuten später war ich eingeschlafen.
Geweckt wurde ich am Morgen, bevor der erste Sonnenstrahl ins Zimmer fiel. Mein Handy klingelte.
Schlaftrunken holte ich es aus der Hosentasche. Auch Robert wachte auf, weil ich ihm auf dem engen Bett aus Versehen meinen Ellbogen in die Magengegend rammte.
Es war Viviane. »Sie haben meine Mutter gefunden«, schluchzte sie ins Telefon. »Sie ist tot.«
Der olympische Gedanke
»Sie hat sich gewehrt. Sie hat gekratzt, gebissen und geschrien. Es muss die Hölle gewesen sein, bevor sie erschlagen wurde.« Miriam Neubert gestikulierte mit ihren knochigen Händen in der Luft, um die letzten Minuten von Vivianes Mutter darzustellen. Miriam war dünn wie ein Bleistift, hatte lauter geplatzte Äderchen in den Augen und üblen Mundgeruch, und jeder im Dorf wusste, dass jede Kartoffel oder jede Rübe, jedes Brötchen, das sie ihr gaben, verschenkt waren, weil sie nach dem Essen sofort im Klo landeten. Miriam war zweiundzwanzig und bulimisch, seit sie mit mir in die Schule in Moosberg gegangen war. Zwei Klassen über mir hatte sie mich damals wahrscheinlich gar nicht richtig wahrgenommen, ich hingegen hatte sie immer wegen ihres mageren Körpers verspottet. Irgendwie musste das falsch angekommen sein, denn sie wurde weiterhin von Jahr zu Jahr dünner. Einmal musste sie ein Schuljahr wiederholen, weil sie nur noch dreißig Kilo wog, sich kaum auf den Beinen halten konnte und deshalb mehrere Monate im Krankenhaus verbrachte. Die sich anschließende Therapie half ihr nur insofern, dass sie nun wusste, warum sie ihre Mahlzeiten regelmäßig wieder auskotzte. Ihr Vater, ein Anwalt in Gallburg, war zu dominant, ihre Mutter, eine Grundschullehrerin in Moosberg, zu unterwürfig.
Sie selbst wollte früher einmal Tierärztin werden, jetzt arbeitete sie in der Bäckerei als Aushilfe, was sicherlich für den Bäcker ein Gewinn war, weil sie niemals freiwillig naschte. Für Miriam jedoch musste es die wahre Hölle sein.
»Das heißt, es muss ein Fremder gewesen sein«, schlussfolgerte der alte Eberhard gerissen. »Ich
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