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Die Anstalt

Die Anstalt

Titel: Die Anstalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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die Welt des Western State Hospital sehr willkommen, und ich fragte nicht nach, wie er das wohl meinte, dachte mir allerdings, dass ich es schon früh genug herausfinden würde, da in dieser Klinik jeder Geheimnisse hatte, doch nur wenige Geheimnisse tatsächlich welche blieben.
    Meine jüngere Schwester drang einmal, lange nach meiner Entlassung, in mich, was das Schlimmste an meiner Zeit im Western State gewesen sei, und nach reiflicher Überlegung sagte ich: die Routine. Die Klinik existierte als ein System kleiner, zusammenhangsloser Momente, die einfach so verpufften und nur eingerichtet wurden, um von Montag zu Dienstag, von Dienstag zu Mittwoch zu kommen und so fort, und das Woche für Woche, Monat für Monat. Alle hier waren auf Betreiben angeblich wohlmeinender Angehöriger für dreißig bis sechzig Tage eingewiesen worden oder aber nach einer formellen gerichtlichen Anhörung, bei der die Betroffenen oft nicht einmal selbst zugegen waren, auf Betreiben der kalten, ineffizienten Mühlen der Sozialämter. Doch wir lernten sehr schnell, dass diese Pseudofristen so illusorisch waren wie die Stimmen, die wir hörten, denn die Klinik konnte diese gerichtlichen Verfügungen immer wieder verlängern, solange sie zu der Einschätzung kam, dass man weiterhin für andere eine Bedrohung darstellte, worauf es, verrückt, wie wir jeweils waren, offenbar immer hinauszulaufen schien. Und so konnte aus einer dreißigtägigen Einweisung per Gerichtsbeschluss leicht ein zwanzigjähriger Aufenthalt werden. Ein geradliniger, steter Abstieg von der Psychose in die Altersdemenz. Kurz nach unserer Ankunft lernten wir alle, dass wir ein wenig wie eingelagerte Munition waren, die mit jedem Moment, den sie unbeachtet vor sich hinrostet, unberechenbarer wird.
    Das Erste, was man im Western State Hospital durchschaute, war die größte Lüge von allen – dass in Wahrheit niemand einem half, gesund zu werden und wieder nach Hause zu kommen. Dabei wurde eine Menge gesagt und eine Menge getan, das angeblich dazu diente, einen wieder in die Gesellschaft zu integrieren, doch das war größtenteils nur leere Schau, so wie die gelegentlichen Entlassungsverhandlungen. Die Klinik war wie heißer Teer auf der Straße – man blieb darin kleben. Ein berühmter Dichter hat einmal gesagt, zu Hause sei dort, wo man immer willkommen ist. Das mochte für Poeten gelten, aber nicht für Verrückte. In der Klinik war man für die normale Welt aus dem Verkehr gezogen und weggesteckt. Wir waren allesamt von Medikamenten matt gesetzt, die die Sinne und die Stimmen trübten, die Halluzinationen aber nicht völlig verbannten, so dass lebhafte Wahnvorstellungen immer noch durch die Korridore widerhallten. Doch das eigentlich Infame an unserer Existenz war, wie schnell wir alle diese Wahnvorstellungen zu akzeptieren lernten. Nach ein paar Tagen in der Klinik machte es mir schon nichts mehr aus, wenn klein Napoleon an meinem Bett stand und voller Elan von Truppenbewegungen in Waterloo sprach und davon, wie er ganz Europa verändert hätte, wenn nur die britischen Spießer unter dem Angriff seiner Kavallerie zusammengebrochen oder Blücher unterwegs aufgehalten worden oder die alte Garde nicht unter einem Kartätschen-und Musketenhagel dahingeschwunden wäre. Ich war mir nie ganz sicher, ob Napoleon sich tatsächlich für den französischen Kaiser hielt, auch wenn er sich gelegentlich so benahm, oder ob er sich nur einfach an all diese Dinge klammerte, weil er ein kleiner Mann war, den man zusammen mit den Übrigen in eine Klapsmühle gesperrt hatte, und er mehr als irgendetwas sonst seinem Leben eine Bedeutung abringen wollte.
    Das galt für uns alle. Es war unser größter Wunschtraum, etwas zu sein. Was uns zu schaffen machte, war die Aussichtslosigkeit, dieses Ziel zu erreichen, und so ersetzten wir es durch Selbstbetrug. Allein auf meinem Stockwerk gab es ein halbes Dutzend Jesusse oder Leute, die zumindest darauf bestanden, mit ihm direkt zu kommunizieren; einen Mohammed, der dreimal täglich in die Knie ging, um Richtung Mekka zu beten, auch wenn er sich oft in der Richtung irrte; ein paar George Washingtons und eine bunte Mischung anderer Präsidenten, von Lincoln und Jefferson bis hin zu LBJ und Tricky Dick, und eine ganze Reihe Leute wie der im Grunde harmlose, doch zuweilen furchterregende Lanky, die stets nach Zeichen des Satans oder seiner Lakaien Ausschau hielten. Es gab Kerle mit einer Keim-Obsession, die wegen der unsichtbaren Bakterien in der

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