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Die Anstalt

Die Anstalt

Titel: Die Anstalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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jemandem belästigt worden war. Nur, dass es ihn nicht wirklich gab. Ich öffnete die Tür weit und ließ ihn hereinschauen. »Ganz allein, Ehrenwort«, sagte ich. Doch ich sah, wie sein Blick quer durch die Wohnung schnellte und an den Worten hängen blieb, die ich auf die Wand kritzelte. In dem Moment dachte ich, er würde etwas sagen, doch er schwieg. Er streckte die Hand aus und legte sie mir auf die Schulter.
    »Wenn Sie Hilfe brauchen, Mr. Petrel, brauchen Sie nur bei mir zu klopfen. Jederzeit. Tag und Nacht. Verstanden?«
    »Danke, Mr. Santiago«, sagte ich und nickte. »Und danke für das Essen.«
    Ich schloss die Tür und holte tief Luft, indem ich das Aroma des Essens einsog. Plötzlich kam es mir so vor, als hätte ich seit Tagen nichts gegessen, auch wenn ich mich an überbackenen Käse erinnerte. Aber wann war das gewesen? In einer Schublade fand ich eine Gabel und stieß sie in Rosalitas Spezialität. Ich war gespannt, ob
arroz con pollo,
das bei so vielen geistigen Leiden half, mich von meinem heilen konnte. Zu meiner Verwunderung schien mir jeder Bissen frische Kräfte zu verleihen, und während ich kaute, sah ich, welchen Fortschritt ich an der Wand gemacht hatte. Geschichtskolumnen.
    Und ich merkte, dass ich wieder allein war.
    Er würde wiederkommen. Daran zweifelte ich nicht. Er lauerte, diffus, in irgendeinem Winkel außerhalb meiner Reichweite und entzog sich meinem Bewusstein. Wich mir aus. Wich der Familie Santiago aus. Dem
arroz con pollo.
Versteckte sich vor meinem Gedächtnis. Doch im Moment hatte ich zu meiner großen Erleichterung nichts weiter als Hühnchen, Reis und Wörter. Und ich musste unwillkürlich denken: Das ganze Gefasel in Gulp-a-pills Büro über Vertraulichkeit war nichts als aufgeblasenes leeres Gerede gewesen.
    Es dauerte nicht lange, bis alle Patienten und sämtliches Personal Lucy Jones’ Anwesenheit im Amherst-Gebäude zur Kenntnis genommen hatten. Es lag nicht nur an der Art, wie sie sich kleidete, in weiten, dunklen Hosen und Pullover, die lederne Aktentasche in der Hand, dass sie zum legeren Klinikalltag in auffälligem Gegensatz stand, oder an ihrer Größe und Körperhaltung oder der charakteristischen Narbe in ihrem Gesicht, dass sie anders war. Es war vielmehr die Art, wie ihre Absätze auf dem Linoleumboden klickten und sie durch die Flure lief, mit einem derart wachsamen Blick, dass man meinen konnte, sie überprüfte alles und jeden und sei unablässig auf der Suche nach einem verräterischen Zeichen, das ihr weiterhalf. Es war eine Geistesgegenwart, die nichts mit Paranoia, Wahnvorstellungen oder Stimmen zu tun hatte. Selbst die Katos, die in den Ecken lungerten oder an die Wand gelehnt herumstanden, oder die senilen, an den Rollstuhl gefesselten Alten, die alle ihren eigenen Tagträumen nachzuhängen schienen, oder die geistig Zurückgebliebenen, die stumpf auf alles starrten, was um sie her geschah, schienen auf eigentümliche Weise wahrzunehmen, dass Lucy von Kräften getrieben wurde, die mindestens so mächtig waren wie diejenigen, mit denen sie alle zu kämpfen hatten, nur dass ihre irgendwie angemessener waren – in stärkerem Bezug zur Welt. Und so folgten die Patienten ihr, sobald sie an ihnen vorübereilte, mit den Blicken, und wenn sie auch nicht in ihren Selbstgesprächen innehielten oder das Zittern ihrer Hände aufhörte, so schenkten sie ihr eine Aufmerksamkeit, die sich ihrer Krankheit widersetzte. Selbst bei den Mahlzeiten, die sie zusammen mit den Patienten und dem Personal in der Cafeteria einnahm, wo sie wie jeder andere für einen Teller mit dem undefinierbaren Kantinenfraß Schlange stand, war sie jemand von draußen. Sie zog es vor, an einem Ecktisch zu sitzen, von wo aus sie die anderen im Raum sehen konnte, mit dem Rücken zu einer lindgrün gestrichenen Schlackensteinwand.
    Gelegentlich gesellte sich jemand zu ihr – entweder Mr. Evil, der sich für alles, was sie tat, brennend zu interessieren schien, oder Big Black und Little Black, bei denen sich jedes Gespräch früher oder später um Sport zu drehen schien. Manchmal setzte sich auch jemand vom Pflegepersonal zu ihr, doch neben deren schlichter weißer Tracht und der spitzen Haube stach sie noch mehr von der Klinikroutine ab. Und wenn sie sich mit einem ihrer Tischnachbarn unterhielt, schien sie ständig Seitenblicke durch den Raum zu werfen, was Francis ein wenig an einen Feldadler erinnerte, der auf Luftströmungen hoch über ihnen schwebte und herunterspähte, um zwischen

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