Die Anstalt
durch die geschlossene Tür, und ich fühlte, dass er nur Zentimeter von mir entfernt war, direkt auf der anderen Seite. »Sie sollten bitte aufmachen. Ich möchte mich nur davon überzeugen, dass alles in Ordnung ist.«
Mr. Santiago klopfte wieder, und diesmal griff ich nach dem Riegel des Schlosses und zog die Tür einen Spalt breit auf. Unsere Blicke trafen sich, und er sah mich prüfend an.
»Wir haben Schreie gehört«, sagte er. »Es klang, als ob es jeden Moment eine Schlägerei geben würde.«
»Nein«, sagte ich. »Ich bin allein.«
»Ich hab Sie reden hören. Als hätten Sie mit jemandem Streit. Sind Sie wirklich sicher, dass Ihnen nichts fehlt?«
Ramon Santiago war ein kleinwüchsiger Mann, doch nachdem er bereits einige Jahre lang in der frühmorgendlichen Stadt schwere Mülltonnen gehoben hatte, waren seine Arme und Schultern auffallend muskulös. Er wäre für jeden ein ernst zu nehmender Gegner gewesen und musste, wie ich vermutete, selten einmal handgreiflich werden, um sich Gehör zu verschaffen.
»Nein danke, mir geht’s wirklich gut.«
»Sie sehen aber nicht so aus, Mr. Petrel. Ist Ihnen schlecht?«
»Hab nur in letzter Zeit ein bisschen viel Stress gehabt. Und ein paar Mahlzeiten ausgelassen.«
»Soll ich jemanden anrufen? Eine von Ihren Schwestern vielleicht?«
Ich schüttelte den Kopf. »Mr. Santiago, bitte, meine Schwestern kann ich jetzt am wenigsten gebrauchen.«
Er lächelte mich verständnisvoll an. »Ich weiß. Verwandtschaft. Manchmal können die einen in den Wahnsinn treiben.« Kaum waren die Worte heraus, senkte er verlegen den Blick, als ob er mich gerade beleidigt hätte.
Ich lachte. »Nein, nein, Sie haben ja Recht. Das können sie wirklich. Und in meinem Fall ist es ihnen zweifellos gelungen. Und ich vermute mal, das wird ihnen wieder gelingen, früher oder später. Aber im Moment ist alles in Ordnung.«
Er musterte mich weiter mit einem zweifelnden Blick.
»Trotzdem, Mann, haben Sie mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt. Sie nehmen doch Ihre Pillen regelmäßig?«
Ich zuckte die Schultern. »Ja«, log ich. Ich sah, dass er mir nicht glaubte. Er schaute mich weiterhin forschend an und fixierte mein Gesicht, als suchte er jede Runzel, jede Falte nach erkennbaren Symptomen ab, als sei meine Krankheit an einem Hautausschlag oder einer Gelbsucht zu erkennen. Ohne den Blick abzuwenden, warf er ein paar Worte auf Spanisch über die Schulter, und ich sah seine Frau und ihr kleines Kind in der Wohnungstür gegenüber stehen. Rosalita wirkte ein wenig verängstigt, und sie hob die Hand, um mir zaghaft zuzuwinken. Auch das Kind erwiderte mein Lächeln. Dann wechselte Mr. Santiago wieder ins Englische.
»Rosie«, sagte er in forderndem, wenn auch nicht ärgerlichem Ton, »geh und bring Mr. Petrel auf einem Pappteller was von dem Reis mit Huhn, das wir zum Abendessen haben. Er sieht so aus, als könnte er mal ’ne anständige warme Mahlzeit brauchen.«
Ich sah, wie sie nickte, mir ebenfalls ein zartes Lächeln zuwarf und in ihrer Wohnung verschwand. »Das ist sehr nett von Ihnen, wäre aber wirklich nicht nötig gewesen …«
»Kein Problem. Arroz con pollo. Da, wo ich herkomme, Mr. Petrel, hilft das so ziemlich gegen alles und jedes. Bist du krank, kriegst du Reis mit Huhn. Wirst du gefeuert, kriegst du Reis mit Huhn. Bricht dir jemand das Herz?«
»… Reis mit Huhn«, brachte ich den Satz für ihn zu Ende.
»Sie haben’s hundert Prozent getroffen.« Wir mussten beide grinsen.
Rosie kam nach wenigen Sekunden mit einem Pappteller zurück, auf dem sich dampfendes Hühnchen mit lockerem gelbem Reis türmte. Sie lief damit über den Flur, und ich nahm ihn ihr ab, wobei ich kaum merklich ihre Hand streifte und mir bewusst wurde, dass ich schon lange keine menschliche Berührung mehr gefühlt hatte. »Das wäre wirklich nicht …«, fing ich an, doch beide Santiagos schüttelten den Kopf.
»Und Sie sind sicher, dass ich Ihnen niemanden rufen soll? Wenn nicht Ihre Familie, dann vielleicht jemanden vom Sozialamt? Oder einen Freund?«
»Hab nicht mehr allzu viele Freunde, Mr. Santiago.«
»Also, es gibt mehr Leute, denen Sie am Herzen liegen, als Sie denken«, sagte er. Ich schüttelte wieder den Kopf.
»Dann irgendjemand anders?«
»Nein, wirklich nicht.«
»Und Sie sind ganz sicher, dass Sie nicht von jemandem belästigt wurden? Ich hab laute Stimmen gehört. Klang für mich wie kurz vor ’ner Prügelei.«
Ich lächelte, weil ich in Wahrheit tatsächlich von
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