Die Apothekerin
verraten.
»Nicht nur damals, als ich saß«, sagte Dieter, »wahrscheinlich auch hier in diesem Haus, wenn ich mit dem LKW unterwegs war und du gearbeitet hast.«
Woher wußte Dieters Bruder solche Intimitäten?
»Sie hatte auch mit Klaus etwas angefangen.«
Eine blasse Erinnerung stieg in mir auf: Vor langer Zeit hatte mir Levin mitgeteilt, daß Margot ihren Mann mit dessen bestem Freund und seinem eigenen Bruder betrogen hatte. »War Margots Kind von dir?« fragte ich.
»Das Kind? - Woher soll man das so genau wissen? Gut, daß ich die Sache mit Levin jetzt erst erfahren habe, ich hätte sie eigenhändig aus dem Fenster geschmissen.«
Nun wurde ich zum zweiten Mal dunkelrot, und er merkte es. »Hella… ?« fragte er voll dumpfer Ahnung.
Ich brach in Tränen aus und preßte die Hände demonstrativ gegen den Bauch. Mit Schwangeren muß man rücksichtsvoll umgehen.
Dieter lief auf und ab. »Hast du etwa…?« sagte er und legte den Arm um meine Schulter.
Ich versuchte, den Kopf zu schütteln.
Er hob mein Gesicht in die Höhe und sah mir in die roten Augen. »Levin verdient dein Mitgefühl nicht«, sagte er, »er hat keinerlei Rücksicht genommen.«
Das stimmte. Doch ich predigte:
»Man soll nicht Gleiches mit Gleichem vergelten. Ich werde noch mit ihm reden, aber zu dem Zeitpunkt, den ich für richtig halte.«
»Wenn ein kranker Zahn heraus muß«, hielt mir Dieter entgegen, »dann hat es wenig Sinn, den Zeitpunkt zu verschieben.«
»Doch«, sagte ich entschieden. »Wenn der Patient einen fiebrigen Infekt hat, muß man warten.«
Am nächsten Tag besuchte ich das kranke Kind. Obgleich noch fleckig im Gesicht, lag Lene keineswegs im Bett, sondern stritt sich mit ihrem Bruder um die neue Schaukel, die in einem Türrahmen angebracht war. Pawel freute sich über meinen Besuch, Lene über die große Lego-Packung. Da die Kinder uns duzten, taten wir es auch.
Meine Torte war delikat, ich wollte zum Probieren nur eine Viertelstunde bleiben. Während Pawel den Tisch abräumte, las ich aus einem Kinderbuch vor. Die Zeit verging viel zu schnell. Als ich Pawel nach dem Vorlesen in sein vertrauenerweckendes Gesicht sah, überkam mich ein Verlangen, mich in die Arme nehmen zu lassen und den melierten Bart an meinen Wangen zu testen. ›Wir haben uns verpaßt‹, dachte ich, ›aber Freunde können wir werden‹.
Die Kinder stellten den Fernseher an. Wir unterhielten uns mit gedämpfter Stimme. Nach der Geburt von Lene, erfuhr ich, erkrankte seine Frau, hörte Stimmen und brachte sich selbst Verletzungen bei. Es habe ihm fast das Herz gebrochen, daß man sie von ihren Kindern trennen mußte. Es gebe immer wieder Intervalle, in denen sie nach Hause komme, aber sie stehe dann unter starken Medikamenten.
»So grausam es klingt«, sagte er, »ich bin fast froh, wenn sie wieder fort muß. Die Anspannung ist für mich zu groß, auch die Sorge um das Wohl der Kinder.«
Er nahm meine Hand. Ohne lange zu überlegen, lud ich ihn zur Silvesterfeier ein.
»Lieber nicht«, sagte Pawel. »Wenn es knallt und kracht, möchte ich die Kinder nicht gern allein lassen. Ganz abgesehen davon, daß sie noch nicht richtig gesund sind.«
Das sah ich ein. Mein Gesicht mußte einen bekümmerten Ausdruck angenommen haben. Falls die Kinder um zwölf Uhr fest schliefen, sagte er einlenkend, könne er noch vorbeikommen. Wahrscheinlich falle ihm sonst nur die Decke auf den Kopf. Aber könne er es mir zumuten, erst aufzukreuzen, wenn die Party sozusagen vorbei war?
»Mach es, wie du Lust hast, du brauchst dich überhaupt nicht festzulegen«, sagte ich. »Es soll nur ein gemütliches Zusammensein werden, ein paar Freunde, schöne Musik, etwas Gutes zum Essen.«
»Ja, so mag ich es auch am liebsten«, sagte Pawel, und ich verabschiedete mich.
Am Morgen des 31. Dezember sagte Dorit ab. Nun hatten ihre Kinder die Masern. »Ach Gott«, sagte ich, »jetzt habe ich Pawel Siebert eingeladen! Aber wahrscheinlich kann er sowieso nicht kommen. Hast du seine kranke Frau einmal gesehen?«
»Ja, sicher. Früher war sie bildschön, aber jetzt! Tranig, furchtbar tranig - sie kriegt irgendein Sedativum, sieht ganz verquollen aus. Einmal holte sie Lene vom Kindergarten ab, es war ein Trauerspiel! Das quicklebendige Kind an der Hand eines Lamas!«
Seit unserer Studienzeit verwandten Dorit und ich diesen Begriff für langsame Menschen, und da wir selbst das Gegenteil davon waren, sahen wir etwas verächtlich auf sie herab. Sicher bin ich wesentlich attraktiver für Pawel als
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