Die Artefakte der Macht 01 - Aurian
schutzlos ausgeliefert war.
»Es würde Eilin das Herz brechen, wenn sie das sähe«, murmelte D’arvan.
»Das wird sie nicht.« Während Hellorin sprach, begann der Turm zu verschwimmen und verschwand schließlich ganz. An seiner Stelle stand nun ein gewaltiger roter Kristall. Als er die ersten Strahlen der Sonne auffing, erglühte er in pulsierender Helligkeit und summte vor Macht und Kraft, ein Trugbild, so wollte es scheinen. In seinen glitzernden Facetten wurden die Umrisse des Schwertes sichtbar, eines Schwertes, das in seinem eigenen geisterhaften Licht schimmerte.
»So kann es nicht bleiben.« Hellorin machte eine ungeduldige Bewegung mit der Hand, und der massive Edelstein verfinsterte sich und wurde grau, bis er schließlich das Aussehen eines riesigen, groben Felsbrockens hatte. Die ganze Vegetation schwärmte aus, um ihn zu bedecken, und Moos und Flechten erschienen plötzlich auf seiner rauhen Oberfläche.
Maya keuchte. »Wie hast du das gemacht?« wollte sie wissen. »Ich dachte, du hättest keine Macht in dieser Welt.«
»Ich habe es durch D’arvan getan«, erklärte der Waldfürst. »Er hat mich hierher gebracht, und er ist zum Teil ein Phaerie wie ich und zum Teil ein Magusch; und die Magusch haben diese Regeln gemacht. Aber wir müssen uns beeilen. Ich kann ihre Magie nur bis zu einem gewissen Punkt lenken.« Auf Hellorins Gesicht zeichnete sich bereits die gewaltige Anstrengung ab. »Und jetzt, meine liebste Tochter …«
»Warte!« Maya rannte auf D’arvan zu und schlang ihre Arme um ihn. »Ich liebe dich«, wisperte sie.
»Und ich liebe dich.« Er küßte sie ein letztes Mal und trat dann, als der Waldfürst die Hand hob, widerwillig zurück.
Maya verschwand. An ihrer Stelle erschien das schönste Geschöpf, das man seit der Morgendämmerung der Welt erblickt hatte. Ein Einhorn, körperlos und, wie es schien, geschaffen aus allen Arten von Licht: dem Glimmern von Sternen, dem hauchzarten Mondlicht, den silbernen Morgennebeln und weißglühenden Sonnenstrahlen dort, wo seine Hufe den Boden berührten. Auf seiner Stirn thronte ein langes, schlankes, grausam scharfes Silberhorn.
»Siehst du?« sagte Hellorin weich. »Unsere Kriegerin trägt noch immer ihr Schwert – denn es wird ihre Aufgabe sein, das Schwert der Flamme zu beschützen. Nur du kannst sie sehen, für alle anderen wird sie unsichtbar sein. Um des Schwertes wert zu sein, muß sein Träger ebenso weise wie mutig sein. Um sich ihm zu nähern, muß der Eine eine Möglichkeit finden, das Unsichtbare zu sehen, denn auf keine andere Weise kann das Einhorn überwunden werden.«
»Überwunden?« rief D’arvan. »Getötet, meinst du?«
»Nein, ich meinte nicht getötet. Es ist ein Teil des Zauberers, daß Mayas Wächterschaft aufgehoben wird, sobald irgend jemand außer dir sie sehen kann. Es wird keine Notwendigkeit zum Töten geben. Außerdem«, fügte Hellorin hinzu, »würde ein Wesen, das es wert ist, das Schwert der Flamme zu tragen, ein so wunderschönes Geschöpf freiwillig töten? Ich glaube nicht.«
D’arvan schüttelte den Kopf. »Und was hast du für mich auf Lager?« fragte er gepreßt.
»Für dich? Du bist Erdmagusch und Sohn des Waldfürsten. Du trägst den Stab der Lady Eilin, und der Wald wird dir gehorchen. Du mußt den wilden Wald in dieses Tal zurückbringen; fülle ihn mit einer unüberwindlichen Barriere aus Bäumen. Die wilden Geschöpfe werden hier bei dir wohnen, und die Wölfe werden deine Freunde sein und dir bei deiner Arbeit helfen. Du wirst das Schwert vor allen Feinden bewahren, und der Wald wird den Feinden des Bösen Zuflucht geben – die du ebenfalls schützen und bewahren wirst – und doch werden sie dich niemals sehen, nie von deiner Gegenwart erfahren. Du und Maya, ihr werdet euch die Wächterschaft teilen, bis der Eine kommt, um das Schwert zu holen. Dann werdet ihr befreit und wieder vereint, so wie wir alle, wenn die Zeit gekommen ist.« Noch während er sprach, begannen die Umrisse seines Körpers zu zittern und zu schimmern. »Ich kann nicht länger bleiben. Lebe wohl, mein Sohn, und vergib mir.« Er verschwand.
D’arvan sah das Einhorn an. Das wilde, schöne Geschöpf schnaubte und scharrte auf dem Boden, wobei es in kleinen Explosionen von Sonnenlicht feuchtes Erdreich in die Luft schleuderte. Dann trottete es zu dem Magusch hinüber und legte den Kopf auf seine Schulter, und seine großen, dunklen Augen waren unergründliche Teiche des Kummers. D’arvan schlang die Arme um
Weitere Kostenlose Bücher