Die Artefakte der Macht 04 - Dhiammara
wiesen die schwarzen Flügel doch dasselbe exquisite Fächermuster weißer Federn auf, das die Schwingen der großen Heilerin so einzigartig gemacht hatte. In Gedanken schien sie ein letztes Mal diese geliebte, vertraute, alte Stimme zu hören: »Wie willst du mich im Gedächtnis behalten, wenn du keine kleine Prinzessin hast, die du nach mir benennen kannst?«
Rabe preßte die kleine Elster an sich und lachte durch ihre Tränen. »Wie, im Namen Yinzes, hast du das nur zuwege gebracht?« fragte sie.
»Da kommen sie.« Aguilas Stimme holte die verbannte Königin jäh aus der Vergangenheit zurück. Sie drehte sich zu dem Kindermädchen um und nahm ihr geliebtes Kind in die Arme; ihre Augen waren immer noch erfüllt von Liebe und Erinnerungen. Die Menschenmenge brach in lauten Beifall aus, und Rabe verbannte die Erinnerung an Elster für den Augenblick aus ihrem Kopf, um Eliizar und Nereni zu betrachten, wie sie, gefolgt von ihrer Tochter, die Stufen der Terrasse hinaufschritten.
Amahli war so aufgeregt wegen des neuen Hauses – sie konnte es gar nicht erwarten, dort einzuziehen. Es war in der Nähe der östlichen Grenze des großen Waldtals erbaut worden, wo der wichtigste Fluß, der Vivax – Onkel Jharav hatte ihn scherzhaft nach seinem Lieblingspferd benannt – in einer Abfolge von Stromschnellen und Wasserfällen aus dem Tal floß. An dieser Stelle stieg der Nordrand des Tals in einer sanften Abstufung von Terrassen leicht bergan. Das Haus lag hoch oben auf dem Hang, und seine terrassenförmig angelegten Gärten reichten bis zum Fluß hinunter. Man hatte zum Bau den heimischen, blaugrauen Stein verwandt, und weil so viele Menschen, Khazalim wie Himmelsleute, an der Planung des Gebäudes beteiligt gewesen waren, wies es nun flache Dächer auf, gewölbte Dächer, Türmchen, Balkone, Terrassen, Bogenfenster und Erkerfenster, spitze Fenster und quadratische. Obwohl es neu war, sah es aus, als wäre es seit Jahrhunderten aus dem Fels herausgewachsen und hätte sich die ganze Zeit über verändert und entwickelt.
Als ihre Eltern sich der obersten Treppenstufe näherten, konzentrierte Amahli sich nicht länger auf das Haus selbst, sondern auf die Schar von Würdenträgern, die sich auf der Terrasse versammelt hatten. Bei einem solch großen Anlaß ging es nicht an, daß sie ihr gutes Benehmen vergaß. Amahli sah Königin Rabe und ihren Gemahl, Lord Aguila, mit ihren beiden kleinen Kindern. Auf der anderen Seite der Treppe standen Fink und Sturmvogel, die Gründer der Himmelsvolkkolonie, die sich wie Eliizar geweigert hatten, irgendwelche Titel anzunehmen. Amahli war froh zu sehen, daß sie ihre Familien mitgebracht hatten: Sturmvogels Gefährtin Feuerhaube und ihren Sohn, Habicht – der sich mit seinen fünfzehn Jahren noch an das Leben in Aerillia erinnern konnte – und Finks Gefährtin Drossel sowie ihre Tochter Pirol, die genauso alt war wie Amahli und ihre beste Freundin.
Jharav stand ebenfalls mit breitem Lächeln oben auf der Treppe. An seiner Seite sah man seine Frau, Ustila – ein stilles Mädchen, das viel jünger war als er selbst. Amahli wußte aus Gesprächen der Erwachsenen, die gewiß nicht für ihre Ohren bestimmt waren, daß Ustila nach Xiangs Angriff auf die Siedlung zwei Jahre lang keinen Mann auch nur in ihre Nähe gelassen hatte. Daher hatte es für einige Überraschung gesorgt, als sie Jharav heiratete, nachdem seine erste Frau, die er in der Entstehungszeit der Kolonie aus Taibeth geholt hatte, gestorben war. Amahli mochte Ustila – sie war sanft und freundlich. Sie war froh darüber, daß die junge Frau bei dem lieben, alten Jharav ihr Glück gefunden hatte.
Der ehemalige Krieger verbeugte sich tief. »Meine lieben alten Freunde«, begann er, »erlaubt mir zuerst, euch in eurem neuen Heim willkommen zu heißen.« Er holte tief Luft. »Wer hätte, als wir uns das erste Mal als Feinde im Turm von Incondor gegenüberstanden, gedacht, daß wir eines Tages hier stehen würden, nachdem wir so viel erreicht haben …«
O nein, dachte Amahli. Wenn Onkel Jharav erst mal in dieser Art loslegte, konnte er ohne Pause stundenlang weiterreden. Aber als die Tochter des Anführers der Kolonie hatte man sie früh dazu erzogen, solch stumpfsinnige, offizielle Anlässe mit Anstand über sich ergehen zu lassen. Also heuchelte sie Aufmerksamkeit, heftete ihren Blick auf das Geschehen vor sich und ließ ihre Gedanken schweifen.
Die Reden nahmen einfach kein Ende. Als Jharav endlich fertig war, begann
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