Die Artefakte der Macht 04 - Dhiammara
allmählich stellte Aurian fest, daß ihr Bewußtsein fortdriftete und verblaßte, während ihre Erinnerungen eine nach der anderen weggerissen wurden, zusammen mit jedem Fetzchen ihres Stolzes, ihrer Sturheit und ihrer Aufsässigkeit – mit allen guten Dingen und allen schlechten. Irgendwie verlor die Magusch jedoch nie vollends das Bewußtsein. Ganz gleich, was ihr genommen wurde, immer hielt sie an einem letzten tiefen Funken der Bewußtheit fest – und deshalb wußte sie auch, wann die Schlangen endlich den Kern ihres Wesens erreicht hatten. Wie aus gewaltiger Ferne beobachtete sie, losgelöst jetzt und in Frieden mit sich, wie die Schlangen die letzten Überreste ihres alten Selbst verzehrten – um im Zentrum ihres Wesens einen blitzenden, grünen Kristall zu entblößen, groß genug, um sich in ihre Hand schmiegen zu können.
Dann bildeten die beiden Schlangen einen Kreis; sie hatten die Schwänze ineinander geschlungen und ihre beiden Kiefer um den Edelstem gelegt. Einen Augenblick später begannen sie sich zu drehen, schufen einen magischen Wirbel, dessen Kern genau in der Mitte der sphärischen Kammer lag, innerhalb des Rings, den ihre Körper bildeten. Stück um Stück fügten sich die Fetzen von Aurians körperloser Gestalt, die durch die Kammer geweht waren, zusammen und verschmolzen wieder miteinander – bis die Magusch plötzlich wieder ganz und heil war, funkelnd und neugeboren und wunderschön – erneuert und neu geschaffen von den Schlangen der Hohen Magie, die Aurians leuchtende Gestalt noch immer wie ein Diadem umfangen hielten; in ihren Kiefern hielten sie den Kristall des Stabes.
»Sehr beeindruckend, meine Liebe.« Bei dem Klang der trockenen, sardonischen Stimme fuhr Aurian herum. Dort stand in der Gestalt einer brodelnden schwarzen Wolke, die mit Blitzen aus blutrotem Licht durchschossen war, der Erzmagusch Miathan.
Nachdem er die Magusch ihrem Schicksal überlassen hatte, kehrte Chiamh in die Kammer der Winde zurück, wo er in seine körperliche Gestalt zurückglitt. Und obwohl sein eigener Leib unter der bitteren Kälte der Nacht zitterte, zog er sich den Umhang aus und legte ihn über die reglose, bleiche Gestalt Aurians. »Ich fühle mich furchtbar«, sagte er zu Basileus. »Ich kann einfach nicht glauben, daß du mich dazu überreden konntest. Arme Aurian! Sie wird schrecklich leiden. Vielleicht sollte ich doch noch mal zurückgehen und sehen …«
»Nein, Windauge! Dies ist eine Prüfung, der Aurian sich allein stellen muß.«
»Aber …«
»Möchtest du, daß sie scheitert? Denn genau das wird geschehen, wenn du zu ihr zurückkehrst und dich einmischst. Und du würdest dich einmischen, mein Freund. Wenn du die Grausamkeit ihres Leidens erst gesehen hast, könntest du gar nicht mehr dagegen an. Laß es sein«, fügte Basileus mit freundlicher Stimme hinzu. »Solange sie den Mut und die Kraft hat und ihre Ziele rein und ehrlich sind, wird sie überleben und im Triumph aus diesem Martyrium hervorgehen.«
Widerstrebend beugte Chiamh sich der Weisheit des Moldans – aber er konnte die arme Magusch unmöglich ihrem Schicksal überlassen, ohne nicht zumindest im Geiste bei ihr zu sein – und eine Möglichkeit, dies zu tun, besaß er wenigstens. Als die vertraute, schmelzende Kälte seiner Andersicht sich über seinen Körper legte, nahm er einen silbrigen Windfaden zwischen Daumen und Zeigefinger und begann ihn zu dehnen und zu formen, bis er einen glänzenden Spiegel in Händen hielt. Dann erweckte er die Scheibe mit seiner Andersicht zum Leben, konzentrierte seinen Geist auf Aurian und spähte in die Tiefen.
Das Windauge schrie vor Entsetzen und Zorn auf. »Das hast du mir aber nicht gesagt! Du sagtest, sie könne den Stab neu schaffen. Statt dessen tötet er sie!« So tief ging Chiamhs Unglück, daß er die Kontrolle über den Spiegel verlor und er sich zwischen seinen Fingern zu formlosem Nebel auflöste.
»Geduld, Windauge. Hoffen wir, daß Aurian obsiegen wird. Statt daß die Magusch den Stab neu erschaß, erschafft der Stab sie neu. Ich habe dich gewarnt – du hattest nicht hinsehen sollen.«
Chiamh, der so außer sich war, daß er keinen neuen Spiegel schaffen konnte, setzte sich neben den reglosen Leib der Magusch und strich ihr das zerzauste Haar aus der Stirn. Was habe ich getan, dachte er verzweifelt. Was habe ich getan? Dann stockte dem Windauge plötzlich der Atem. Unter dem Umhang leuchtete, hell genug, um sogar den dicken, gewobenen Stoff zu durchdringen,
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