Die Asche der Erde
Eissegler auf. Die Art der Verzierung hatte sich geändert; die Worte waren verschwunden. Was er dort sah, wirkte in gewisser Weise übertrieben, beinahe protzig. Er rückte die Laterne näher heran, untersuchte den langen rechten Rand und hob das Vergrößerungsglas. Eine lange ungleichmäßige Wellenlinie aus schwarzer Tinte hatte den Anfang gemacht, dann waren rote, grüne und braune Linien hinzugekommen. Hadrian zwang sich, nur die schwarze Linie zu beachten. Dann nahm er einen Bleistift und zeichnete ihren Verlauf auf einem leeren Blatt Papier nach.
Aufgeregt stellte er die Linie fertig. Das waren Buchstaben, übertrieben platt und breit. Wie bei einem der optischen Spiele, die er Jonah mit Kindern hatte spielen gesehen. Wenn man das Papier vom Leser wegneigte, nahm die Schrift normale Proportionen an.
Der Adler duldet kleiner Vögel Sang
. Das war von Shakespeare. Für sich allein klang es wie eine Warnung. Hadrian kopierte die schwarzen Linien der anderen Seitenränder.
Für eine einzelne gesunde Geburt
, stand oben auf der Seite. Unten folgte:
Ein Festmahl aus Maiskolben und Froscheintopf
. Die Sätze schienen nichts miteinander zu tun zu haben und wirkten ziemlich befremdlich.
Er schlug den achtzehn Monate alten Eintrag über den Untergang der
Anna
auf. Auf der Folgeseite – für die nächste Woche – las er den lateinischen Satz
Mundus vult decipi, ergo decipiatur
. Die Welt will betrogen sein, darum sei sie betrogen.Hadrian war verwirrt und entnervt. Jonah konnte doch wohl kaum so schnell erfahren haben, dass der Verlust der
Anna
nur vorgetäuscht gewesen war.
Hadrian blätterte hin und her und bestätigte seinen Verdacht. Alle frühen Seiten hatten Ränder mit gewöhnlichem Text. Seit etwa einem Jahr waren die Randbemerkungen versteckt.
Er versuchte es noch mal, las erst den Haupttext über die Eröffnung des neuen öffentlichen Badehauses und die Freude darüber, dass es nun fließendes warmes Wasser gab, erhitzt durch Dampf, wie in den alten römischen Bädern. Dann nahm er sich die schwarzen Linien am Rand vor.
Es wird weniger der berühmte Journalist betrauert als vielmehr der feinfühlige Maler, der so perfekt zu seiner dichtenden Gefährtin gepasst hat. Ein Lied ist mitten im lyrischen Refrain verstummt.
Hadrian ließ den Bleistift sinken. Nelly hatte erzählt, dass ihr Mann, der ehemalige Fernsehreporter, in der Woche vor der Eröffnung der Bäder gestorben war. Jonah hatte auf den Rändern nicht irgendwelche zufälligen Gedankengänge festgehalten, sondern Ereignisse aus den Camps.
Er nahm frisches Papier aus dem Regal und fing an, die versteckten Einträge systematisch zu transkribieren.
Malesuada fames
, lautete einer von ihnen auf Latein. Der Hunger, der Menschen zu Straftaten ermutigt.
Sein Blick schweifte zu dem kleinen Ständer, auf dem der Foliant gelegen hatte. Das Ding war relativ neu und kein Bergungsgut, erkannte er. Er hielt die Laterne dicht daneben und fing an, die Fugen zu untersuchen. Dann neigte er den Ständer und spürte am oberen Ende eine Gewichtsverlagerung.
Er brauchte fünf Minuten, um Jonahs geheimes Schubfach zu finden. Das Lederpäckchen darin enthielt Dutzende Papiere in unterschiedlichen Größen und Formen, alle mit derselben Handschrift. Die untersten Texte standen aufden Rückseiten herausgerissener Titelblätter alter Romane. Es waren zunächst ausschließlich Gedichte. Hadrian las mit zunehmender Beklemmung.
Zerfallende Bücher, Lektüre im Schein eines Windlichts
So wollten wir eigentlich nicht alt werden
Im Land der Freien, der Heimat der Tapferen
Bei dem nächsten Gedicht wagte er sich nicht über die erste Zeile hinaus.
Wie kalt sind die frisch gewaschenen Gesichter unserer
Toten
Die späteren Botschaften waren allesamt Berichte über das Leben in den Camps. Der Versuch, eine Schule ins Leben zu rufen, war fehlgeschlagen, weil zu viele Familien vollauf durch Krankheit und Nahrungssuche in Anspruch genommen wurden. Ein neuer Vorstoß des Tribunals zur Ausbildung von Hebammen wurde beschrieben, ausgelöst durch die erschreckende Anzahl von Frauen, die in den Camps bei der Entbindung starben. Die Liste der Krankheiten, von der Nelly erzählt hatte. Andere waren lediglich kurze Fragen oder Anmerkungen auf kleinen Papierstreifen.
Wie lange muss die Rinde eingeweicht werden?
, lautete einer der Zettel.
Antibiotika liegen am Ende unseres Regenbogens
, ein anderer. Wiederum ein anderer listete diverse Töpfe und Pfannen sowie deren
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