Die Asche der Erde

Nelly zog ihn zu sich herunter, damit er sich neben sie setzte. Während sie ein Stück Brot für ihn abbrach, summte sie ein leises Lied. Der Klang, der ihrer Kehle entstieg, war ihre ganz eigene Kreation, erschaffen nach dem Untergang der Welt. Hadrian schloss die Augen und ließ die Melodie ihren besänftigenden Zauber tun. Nach fast einer Minute nahm er sein Taschenmesser und zerteilte einen Apfel. Waller verharrte nervös an der Tür, als wolle sie Hadrian zum Aufbruch drängen. Sie hatte seiner Bitte um einen geheimen Besuch bei den Häftlingen entsprochen und war damit ein großes Risiko eingegangen. Nun starrte sie Nelly mit einer Verwirrung an, die an Angst grenzte. Die Polizistin erhaschte einen Blick auf eine Welt, die sie noch nie gesehen hatte.
    »Nelly, ich möchte nur, dass du nach Hause kannst«, sagte Hadrian und gab ihr ein Stück Apfel.
    »Du weißt ja nicht, wie es dort inzwischen aussieht«, entgegnete sie sarkastisch.
    Er trat ans Fenster und hielt einen Moment die Gitterstäbe umklammert. »Wieso musste er sterben?«, fragte er die dunklen Bäume.
    »Jonah wusste mehr als jeder andere auf der ganzen Welt«, lautete Nellys kryptische Antwort.
    »Warum wolltet ihr ihn besuchen?«, fragte er.
    »Ich weiß es nicht.«
    Hadrian senkte verzweifelt den Kopf. »Jetzt traust du also nicht mal mehr mir?«
    »Aber es stimmt«, knurrte Shenker und rückte näher an Nelly heran, als wolle er sie beschützen. »Sie hat eine dringende Nachricht von Jonah erhalten, er müsse sie unbedingt sprechen. Den Grund kennen wir nicht.«
    »Wie war der genaue Wortlaut?«
    Shenker ballte die Fäuste. »Das sagte ich doch. Und nun ist das Verhör vorbei. Raus hier, oder ich …« Eine Hand auf seinem Knie ließ ihn verstummen. Nelly hatte sich vorgebeugt, um ihren hitzigen Begleiter zu beruhigen. Mit der anderen Hand griff sie unter ihr Gewand und brachte ein zerknittertes Stück Papier zum Vorschein.
    Während Hadrian die Worte las, wurde sein Mund ganz trocken.
Komm sofort
, stand dort in Jonahs vertrauter Handschrift.
Wenn die Welt schon aus den Angeln gehoben wird, dann lass uns der Grund dafür sein.
    Er ließ sich von Waller aus der Zelle ziehen. Shenker nahm ihm vorher noch schnell den Zettel wieder ab. »Falls sie zurückkommen, stellt euch bewusstlos«, wies Hadrian die Ausgestoßenen an und machte sich von Waller los. »Stecken Sie mich in die Nachbarzelle«, sagte er.
    »Aber Sie sind kein Gefangener.« Ihre Miene spiegelte gegensätzliche Gefühle wider.
    »Ich brauche Schlaf. Und Sie müssen Ihre Autorität behaupten.« Er blieb im Eingang der Nachbarzelle stehen.
    »Wie bitte?« Sie hatte nicht bemerkt, dass hinter ihr mehrere Männer nahten.
    »Schlagen Sie mich.«
    »Ich bin keine dieser …«
    »Im Herzen sind Sie nichts als eine Brikettschlampe, oder?«
    Hadrian hatte die schnelle und gewaltsame Reaktion auf Shenkers Stichelei gesehen. Ihre Faust holte blitzschnell aus und hämmerte gegen seinen Unterkiefer.
    Er starrte sie an und lächelte, während Blut aus seinem Mund und über das Kinn lief.
    »Sehr gut, Sergeant!«, dröhnte die tiefe Stimme hinter ihr. »Der lange flinke Arm des Gesetzes bei der Arbeit!«, sagte Lucas Buchanan.
    Hadrian wich in die Zelle zurück. Der Gouverneur in Begleitung von Kenton, Björn und einem Wärter gesellte sich zu Waller.
    »Wussten Sie, dass Sergeant Waller früher mal ein aufstrebendes Talent in der Lacrosse-Liga war, Lieutenant?«, fragte er Kenton. Die Sportart gehörte zu den wenigen Traditionen der alten Welt, die Buchanan zugelassen hatte. »Kommen Sie ihr bloß nicht zwischen die Ellbogen. Die sind tödlich.« Alle Polizisten lachten, außer Waller. Sie fixierte stattdessen kühl und verärgert Hadrian.
    »Was ist mit den anderen?«, fragte der Gouverneur.
    »Die lecken ihre Wunden«, berichtete Waller mit tonloser Stimme. »Momentan hat es wenig Sinn, sie zu verhören.«
    Buchanan runzelte die Stirn. »Und das Projekt von Bürger Boone? Die Ereignisse in der Bibliothek müssen wohl …« Er suchte nach der geeigneten Formulierung. »… neu bewertet werden.«
    »Wir machen Fortschritte«, erwiderte Waller.
    Hadrian ließ den Kopf hängen und rieb sich das blutige Kinn.
    Kenton raunte dem Wärter etwas zu. Der Mann ging zu der nächsten Zelle. Hadrian hörte, wie die schwere Tür sich knarrend öffnete, und beobachtete den Schatten des Wärters,während Buchanan nach ihm die Zelle betrat. Björn zündete sich eine Zigarette der allseits beliebten Marke