Die Asche der Erde
Hadrian wurde klar, dass es noch mehr solcher Träger hier gab, Männer und Frauen, alle in dunkles Grau oder Braun gehüllt, alle mit gesenktem Blick.
»Sind das Diener?«, fragte er.
»Vertragsknechte. Wer es nicht anderweitig schafft und von niemandem unterstützt wird, kann sich für fünf Jahre bei einem Haushalt verpflichten und erhält im Gegenzug Kost und Logis. So überleben diese Leute.«
Hadrian musterte die abgewandten oder leeren Blicke von vielen der karg Gekleideten. »Allzu glücklich scheinen sie darüber aber nicht zu sein.«
Sebastian zuckte die Achseln. »Bisweilen werden auch Unruhestifter zwangsverpflichtet. Das ist billiger als ein Gefängnis.«
Sie schlenderten nun an kleinen Geschäften vorbei, dann wieder an einer Reihe schiefer Häuser und gelangten schließlich zu einem kleinen Hügel, von dem aus man die Siedlung überblicken konnte. Hadrian ließ den Blick über die Landschaft schweifen und erkannte, dass jedes neue Puzzlestück es schwieriger werden ließ, das Gesamtbild zu erfassen. »Wo sind Ihre Farmen, Ihre Nahrungsmittel?«
»Es gibt ein paar Getreidefarmen im Umland«, erklärte der Erstgeborene. »Den Rest jagen oder kaufen wir.«
»Fische aus Carthage.«
»Mehr als nur Fische«, sagte Sebastian. Dann runzelte er die Stirn. Hadrian spürte, dass er fürchtete, er könne zu viel verraten. »Die Gegend hier bestand hauptsächlich aus Agrarland, mehr als dreihundert Kilometer weit. Die Hälfte unserer Leute waren verhungert, bis wir sie gefunden hatten.« Er grinste in Anbetracht von Hadrians Verwirrung. »Zahllose Rinder und Schafe haben sich selbstständig gemacht und sind verwildert. Heutzutage sind es gewaltige Herden mit Tausenden von Tieren. Und die sorgen dafür, dass weite Strecken des ehemaligen Weidelandes ständig abgegrast sind.«
»Ich dachte, Jäger und Sammler würden mehr von der Hand in den Mund leben«, sagte Hadrian und schaute wieder zu der Stadt. Es war in vielerlei Hinsicht eine blühendeGemeinde, aber je mehr von diesen Dienern er sah, desto häufiger fielen ihm die traurigen, wenn nicht sogar regelrecht leidenden Gesichter auf. Das waren keine Bediensteten, sondern Sklaven.
»Nach all den vielen Hungertoten der ersten Jahre hat niemand mehr etwas gegen einen vollen Magen einzuwenden.«
Hadrian wechselte das Thema. »Wer unterrichtet die Kinder?«, fragte er unumwunden.
Sebastian zuckte die Achseln. »Wieso?«
»Nach meiner Erfahrung sind im Leben nur zwei Dinge wirklich von Bedeutung – wer die Kinder unterrichtet und was ihnen beigebracht wird.«
»Die Mütter wechseln sich ab und tun ihr Bestes. Meine eigene Mutter leitet eine Schule für die Stammeskinder, aber sie besteht darauf, dass der Unterricht ein Stück abseits stattfindet, tief im Wald.« Der Erstgeborene hielt inne. »Wir haben Kunsthandwerker«, fügte er dann hinzu. »Holzschnitzer, Töpfer, zwei Maler.«
»Und einen Papiermacher.«
Sebastian nickte. »Fast direkt am Platz. Die alte Frau stellt das Zeug haufenweise her.«
Zehn Minuten später betraten sie den Laden. In einem Nebenraum war eine junge Frau in grauem Überkleid damit beschäftigt, geborgene Kleidung an den Nähten aufzutrennen und dann in einem Bottich auszukochen, um die Fasern wiederzugewinnen. Hadrian berührte einen Stapel Blätter auf dem Tresen. Sie waren zu dünn, um daraus die geschmuggelten Schrotpatronen herzustellen, aber sie wiesen das gleiche gesprenkelte Muster auf, die gleiche Textur. Es würde nicht schwierig sein, eine dickere Version anzufertigen. Er beobachtete, wie eine silberhaarige Frau eine andere Vertragsmagd anwies, etwas durch eine Tür im hinteren Teil desRaumes zu tragen. Es sah aus wie ein Stapel schwererer Papierbögen. Hadrian schickte sich an, ihr zu folgen, aber Sebastian zog ihn weg.
Sie folgten in der Dämmerung dem Uferverlauf und sahen einen Trupp stiller, müder Reiter mit ihren Packpferden an einem Gebäude eintreffen, das wie ein Lagerhaus aussah. Hadrian wollte zu ihnen gehen, doch Sebastian legte ihm eine Hand auf die Schulter und deutete stattdessen auf eine Doppeltür am Ende des Hühnerhauses, wo eine Frau soeben zwei große Öllaternen aufhängte. Mehrere Personen, die bis jetzt am Ufer gewartet hatten, eilten auf die Tür zu.
Als auch Hadrian und Sebastian dort eintrafen, herrschte in der Taverne bereits ein beachtlicher Geräuschpegel. Hadrian blieb am Eingang stehen und lächelte überrascht. Es war schwierig, sich nicht von den holzvertäfelten Wänden
Weitere Kostenlose Bücher