Die Asche der Erde
Etikettenseiner Kindheit, denn seine Mutter hatte oft Dosensuppen und -eintöpfe aufgetischt. Nun erst wurde ihm klar, über was für ein Ausmaß an Bergungsgütern Sankt Gabriel verfügte. »Die können doch nach so vielen Jahren nicht mehr genießbar sein.«
»Undichte oder verdorbene Konserven sind schon vor langer Zeit aufgeplatzt. Die meisten hiervon kann man noch verwenden. Notfalls fügen wir etwas Brühe hinzu. Und wir haben Gewürze, damit es nicht so schal schmeckt.«
Hadrian nahm eine der Dosen. Mit einem solchen Schatz hatte er wirklich nicht gerechnet. Als er das Verfallsdatum las, verspürte er einen Stich im Herzen: 2024. Wie unglaublich zuversichtlich diese Jahreszahl aus heutiger Sicht doch wirkte. Für viele der Überlebenden hatte es dieses Jahr nämlich nicht mehr gegeben, weil davor das Ende gekommen war. Die Zivilisation mochte untergegangen sein, doch ihre Suppen hatten überdauert.
»Hühnernudeltopf«, sagte er und wusste selbst nicht, wieso er flüsterte. »Den hab ich immer gern gegessen.«
»Zwei Dosen«, verkündete Sauger.
»Ich setze mich mit an den Tisch«, sagte Hadrian und zeigte in Richtung von Dax, der nicht auf ihn reagiert hatte. Auf der Wange des Jungen war ein dunkler Fleck, ein frischer Bluterguss.
Sauger betrachtete Dax mit neutraler Miene und grinste dann Hadrian an. »Unsinn. Heute Abend gehören Sie uns«, sagte er, legte Hadrian einen Arm um die Schultern und führte ihn weg.
Sie saßen an einem Tisch und aßen mit gestempeltem Tafelsilber. Die jahrzehntealte Suppe dampfte vor Hadrian in einer Porzellanschüssel, und ihr Duft weckte längst vergessene Erinnerungen daran, wie er in der Küche seiner Mutter saß, nachdem er einen Schneemann gebaut hatte. Sebastian,der sich für den Hammelschmortopf entschieden hatte, beobachtete ihn amüsiert.
In einer Ecke spielten mehrere Männer Darts und warfen dabei auf ein Brett, das mit einem Bären bemalt war. Hadrian sah nun auch einige junge Frauen, geschminkt und in eng anliegender Kleidung. Verlegen ertappte er sich dabei, dass er eine Rothaarige Mitte zwanzig anstarrte, die seinen Blick plötzlich einladend erwiderte. Eine ihrer Begleiterinnen, eine hochgewachsene Blondine, verschwand gerade mit einem Mitglied des Bergungstrupps durch eine Seitentür. Auf den Rücken der Weste des Mannes war ein Skelett gestickt, das eine Schaufel hielt. Darunter stand Totengräber.
An dem Ecktisch brandete raues Gelächter auf. Wade und der affenähnliche Maschinist der
Anna
hatten sich zu den anderen Männern des Bergungstrupps gesellt. Die beiden Jungen, die mit ihnen aus New Jerusalem hier eingetroffen waren, räumten soeben das Geschirr ab. Sie trugen mittlerweile die graue Kleidung der Vertragsknechte.
»Was halten Sie von unserem Paradies?«, fragte Sauger und setzte sich neben Hadrian.
»Man kommt sich nie so blind vor, wie in dem Moment, in dem man endlich sehen lernt«, erwiderte Hadrian.
Sauger schien das als Kompliment aufzufassen. Grinsend gab er der Rothaarigen einen Wink. Sie brachte frische Gläser und eine alte Limonadenflasche, die mit einem Korken verschlossen war. »Man kann aus fast allem Wodka herstellen«, verkündete er, öffnete die Flasche und roch daran, als wäre es edler Wein, bevor er allen einschenkte. »Rüben und Holunderbeeren, gelagert in Zedernholz. Sie werden überrascht sein.«
»Ich frage mich die ganze Zeit, warum wir in Carthage von all diesen Wundern im Norden nie etwas mitbekommen haben.«
Sauger lächelte wie ein Buddha. Er musterte Hadrian nachdenklich, hob dann prostend sein Glas und nippte an dem Wodka. »Wir rappeln uns gerade erst auf, könnte man sagen. Bis vor kurzem ging es bloß ums Überleben.«
Hadrian hielt sein Glas fest umklammert und kämpfte gegen den Impuls an, ebenfalls zu trinken. Gleichzeitig hörte er die Stimme, die ihm zurief, seine Tage als Säufer seien vorbei. Dann wurde ihm klar, dass er gar kein Verlangen nach Hochprozentigem mehr verspürte. Es schien an Jonah zu liegen, so als hätte etwas in ihm einen Pakt mit seinem toten Freund geschlossen, sich nicht mehr zu betrinken. »Aber unsere Fischer fahren doch seit Jahren in den Norden«, entgegnete er.
»Wir ermutigen sie zur Verschwiegenheit. Als sie damals am Horizont aufgetaucht sind, haben wir ihnen Kanus mit Fellen und Holzschnitzereien entgegengeschickt und sie vor den gefährlichen Untiefen in Ufernähe gewarnt. Aber sie haben sich immer weiter vorgewagt. Sobald sie einmal hier waren, fanden sie
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