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Die Aspern-Schriften (German Edition)

Die Aspern-Schriften (German Edition)

Titel: Die Aspern-Schriften (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry James
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habe das Interesse daran verloren und keine Vorschläge mehr gemacht. Die Leute kämen gleichwohl; wenn die guten Venezianer einen einmal ins Herz geschlossen hätten, dann liebten sie einen für immer.
    Es lag etwas Anrührendes in der Treuherzigkeit, mit der sie mir den Glanz ihres früheren gesellschaftlichen Lebens vor Augen führte; das Picknick auf dem Lido war ihr über all die Jahre in lebhafter Erinnerung geblieben, und die arme Miss Tina hatte offenbar den Eindruck, eine verwegene Jugend verbracht zu haben. Tatsächlich hatte sie wohl einen Blick auf die venezianische Welt in ihrer Schwatzhaftigkeit, ihrer Häuslichkeit, ja selbst in ihrer Geschäftigkeit geworfen. Zum ersten Mal fiel es mir jetzt nämlich auf, wie gut sie durch Nachahmung die spezielle Art des so weich, fast kindlich klingenden familiären Plaudertons dieser Gegend erlernt hatte. Dass sie sich diesen zügellosen Dialekt zu eigen gemacht hatte, schloss ich aus der natürlichen Art, wie ihr die Namen von Dingen und Leuten – meist von rein lokaler Bedeutung – über die Lippen kamen. Doch wenn sie schon wenig darüber wusste, was sie darstellten, wusste sie von allem anderen noch viel weniger. Ihre Tante hatte sich aus der Welt zurückgezogen – ihr mangelndes Interesse an Tischdeckchen und Lampenschirmen war ein Zeichen dafür –, und sie selbst war nicht in der Lage gewesen, sich allein in Gesellschaft zu begeben oder Gäste zu empfangen; daher schienen all ihre Erinnerungen einer vergangenen Welt anzugehören. Hätte sie nicht in so gewähltem Tonfall gesprochen, hätte man sich in das anrüchige Rokoko-Venedig Goldonis und Casanovas zurückversetzt gefühlt. Mir wurde bewusst, dass ich fälschlicherweise auch sie als Zeitgenossin von Jeffrey Aspern ansah; das lag daran, dass sie mit mir und meiner eigenen Zeitgenossenschaft so wenig gemeinsam hatte. Es war sogar möglich, überlegte ich mir, dass sie noch nie von ihm gehört hatte; es konnte gut sein, dass Juliana es sich versagt hatte, vor den unschuldigen Augen ihrer Nichte den Schleier je zu lüften, der den Tempel ihres Erdenruhms verhüllte. Wenn es so war, wusste sie vielleicht gar nichts von der Existenz der Papiere, und diese Vermutung war mir willkommen, fühlte ich mich doch sicherer in ihrer Gegenwart. Doch dann erinnerte ich mich, dass wir von dem Brief an Cumnor mit der Leugnung angenommen hatten, dass er in der Handschrift der Nichte verfasst worden sei. Sollte er ihr diktiert worden sein, musste sie selbstverständlich wissen, worauf er sich bezog; zumal das Anliegen des Schreibens war, jedes Ansinnen zurückzuweisen, es habe irgendeine Verbindung mit dem Dichter gegeben. Auf jeden Fall hielt ich es für wahrscheinlich, dass Miss Tina nicht eine Zeile seiner Dichtung gelesen hatte. Wenn sie sich darüber hinaus gemeinsam mit ihrer Gefährtin immer gegen Zudringlichkeiten und Nachforschungen verwahrt hatte, dürfte es kaum Gelegenheit gegeben haben, sie auf den Gedanken zu bringen, dass Leute »hinter den Briefen her« waren. Niemand war hinter ihnen her gewesen, weil niemand je von ihnen gehört hatte. Cumnors fruchtloser Versuch, seine Fühler auszustrecken, dürfte ein einsamer Vorstoß gewesen sein.
    Als es Mitternacht schlug, stand Miss Tina auf; doch machte sie erst vor der Haustür halt, nachdem sie zwei oder dreimal mit mir rund um den Garten geschlendert war. »Wann werde ich Sie wiedersehe n ?« fragte ich, bevor sie hineinging; worauf sie ohne Zögern antwortete, sie würde gern am nächsten Abend wieder kommen. Jedoch fügte sie hinzu, sie werde es nicht tun – sie sei weit davon entfernt, alles zu tun, was ihr gefalle.
    »Sie könnten ein paar Dinge tun, die mir gefallen«, seufzte ich ziemlich aufrichtig.
    »Ihnen – oh nein, ich glaube Ihnen nich t !« flüsterte sie und schaute mich dabei in ihrer schlichten Ernsthaftigkeit an.
    »Warum glauben Sie mir nich t ?«
    »Weil ich Sie nicht verstehe.«
    »Das ist genau die richtige Gelegenheit, um Vertrauen zu bekunden.« Mehr konnte ich nicht sagen, obwohl ich es gern getan hätte, da ich sah, dass ich sie nur in Verwirrung stürzen würde; denn ich wollte nicht mein Gewissen damit belasten, dass man mir den Vorwurf machen könnte, ich hätte ihr den Hof gemacht. Genau danach aber hätte es ausgesehen, wenn ich damit fortgefahren wäre, eine Dame in einem italienischen Garten in einer Sommernacht zu bitten, »mir doch zu glauben«. In gewisser Weise wurden meine Bedenken belohnt, denn Miss Tina blieb und

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