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Die Aspern-Schriften (German Edition)

Die Aspern-Schriften (German Edition)

Titel: Die Aspern-Schriften (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry James
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verweilte immer länger: Ich spürte, dass sie tatsächlich überzeugt war, sobald nicht wieder hier herunterzukommen, und daher wollte sie nur allzu gern den Augenblick in die Länge ziehen. Außerdem war der Nachdruck zu spüren, mit dem sie das Gespräch zwischen uns in eine persönliche Richtung lenken wollte; insgesamt verhielt sie sich so, wie es nur einer völlig arglosen und ausgesprochen einfältigen Frau möglich gewesen wäre.
    »Jetzt, da ich weiß, dass die Blumen auch für mich gedacht sind, werden sie mir viel besser gefallen.«
    »Wie konnten Sie das in Zweifel ziehe n ? Wenn Sie mir verraten, welche Sorte Sie am liebsten mögen, schicke ich Ihnen einen doppelt so großen Strauß.«
    »Oh, ich mag sie alle gleich ger n !« Dann fügte sie in vertraulichem Ton hinzu: »Werden Sie arbeiten – werden Sie lesen und schreiben –, wenn Sie gleich in Ihre Räume hinaufgehe n ?«
    »Nachts tue ich das nicht – nicht in dieser Jahreszeit. Das Lampenlicht zieht Ungeziefer an.«
    »Das hätten Sie wissen sollen, bevor Sie hierher kamen.«
    »Ich habe es gewuss t !«
    »Aber im Winter arbeiten Sie nacht s ?«
    »Ich lese eine Menge, aber ich schreibe nicht oft.« Sie hörte mir zu, als wären diese Einzelheiten höchst interessant, und plötzlich schimmerte mir auf ihrem offenen, sanften Gesicht etwas Verführerisches entgegen, das ganz im Widerspruch zu all der Vorsicht stand, die ich mir selbst auferlegt hatte. Oh ja, jetzt fühlte sie sich sicher, und ich konnte sie noch sicherer mache n ! Von einem Augenblick zum anderen wurde mir klar, dass ich nicht länger warten konnte – dass ich wirklich beginnen musste, meine Möglichkeiten auszuloten. So fuhr ich fort: »Im Allgemeinen lese ich vor dem Schlafengehen (sehr oft im Bett, das ist eine schlechte Angewohnheit, aber ich gestehe sie ein), meist lese ich im Werk eines großen Dichters. In neun von zehn Fällen ist es ein Band von Jeffrey Aspern.«
    Ich beobachtete sie genau, während ich den Namen aussprach, doch ich nahm keinerlei Verwunderung bei ihr wahr. Warum sollte ich auc h ? Gehörte Jeffrey Aspern nicht der ganzen Menschhei t ?
    »Oh ja, auch wir lesen ihn – wir haben ihn gelesen«, erwiderte sie ruhig.
    »Er ist für mich die Krone der Dichtkunst – ich kenne fast alles von ihm auswendig.«
    Miss Tina zögerte einen Moment lang, doch dann war ihr freundliches Wesen stärker als sie. »Ach, auswendig – das bedeutet nicht viel«, und es trat, wenn auch nur schwach, ein Leuchten in ihr Gesicht. »Meine Tante kannte ihn persönlich – kannte ihn« – sie hielt inne, und ich erwartete mit Spannung, was sie nun wohl sagen würde – »kannte ihn als Besucher.«
    »Als Besuche r ?« Ich beherrschte mich im Ton.
    »Er suchte sie auf und ging mit ihr aus.«
    Ich starrte sie unbeirrt an. »Gute Dame, er ist schon seit hundert Jahren to t !«
    »Ja, ja«, sagte sie amüsiert, »und meine Tante ist hundertfünfzig.«
    »Guter Got t !« rief ich. »Warum haben Sie mir das nicht früher gesag t ? Ich würde ihr so gern ein paar Fragen über ihn stellen.«
    »Das würde sie nicht interessieren – sie würde Ihnen nichts erzählen«, antwortete Miss Tina.
    »Es ist mir egal, wofür sie sich interessier t ! Sie muss mir von ihm erzählen – diese Gelegenheit darf man sich nicht entgehen lassen.«
    »Dann hätten Sie zwanzig Jahre früher kommen sollen. Damals hat sie noch über ihn gesprochen.«
    »Und was hat sie gesag t ?« fragte ich übereifrig.
    »Ich weiß nicht – dass er sie enorm geschätzt hat.«
    »Und sie – hat sie ihn nicht geschätz t ?«
    »Sie sagte, er wäre ein Gott.« Miss Tina erzählte mir dies ganz unbewegt, ohne besonderen Ausdruck; aus ihrem Tonfall hätte man schließen können, es handle sich um ganz gewöhnlichen Klatsch. Doch mich wühlten die Worte zutiefst auf, als sie sie in die Sommernacht fallen ließ; ihr Klang war wie das leichte Rascheln eines alten Liebesbriefs, der gerade vor mir entfaltet wurde.
    »Verrückt, einfach verrück t !« flüsterte ich. Und dann: »Bitte sagen Sie mir eines – besitzt sie ein Bild von ih m ? Sie sind leider so selten.«
    »Ein Bil d ? Das weiß ich nicht«, sagte Miss Tina; und nun zeigte sich Verlegenheit in ihrem Gesicht. »Na dann, gute Nach t !« fügte sie hinzu; und damit wandte sie sich ab und ging ins Haus.
    Ich begleitete sie in den weitläufigen, düsteren Flur mit Steinfußboden, der im Erdgeschoss unserem großen Empfangssaal im ersten Stock entsprach. Auf der einen Seite

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