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Die Aspern-Schriften (German Edition)

Die Aspern-Schriften (German Edition)

Titel: Die Aspern-Schriften (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry James
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Schlaf; das habe sie schon immer getan, dösend und sinnierend; doch früher habe sie in solchen Ruhephasen in Abständen kleine Lebenszeichen von sich gegeben, irgendein Interesse bekundet, und es habe ihr gefallen, wenn ihre Gefährtin mit einer Handarbeit in ihrer Nähe gesessen habe. Die untröstliche Frau vertraute mir an, dass ihre Tante zum gegenwärtigen Zeitpunkt so bewegungslos dasitze, dass man Angst bekomme, sie sei tot; darüber hinaus esse und trinke sie so gut wie nichts – man könne nicht erkennen, wovon sie überhaupt lebe. Das Erstaunlichste sei, dass sie an den meisten Tagen immer noch aufstehe; es sei eine schwierige Aufgabe, sie anzukleiden und im Rollstuhl aus ihrem Schlafzimmer hinauszufahren. Sie halte an möglichst vielen alten Gewohnheiten fest und habe immer Wert darauf gelegt, so wenig Gäste sie auch in den vergangenen Jahren empfangen hätten, im großen Salon zu sitzen. Ich wusste nicht recht, was ich von all dem halten sollte – von Miss Tinas plötzlicher Bekehrung zur Geselligkeit und der befremdlichen Tatsache, dass die alte Frau, je mehr sie auf ihr Ende zuzugehen schien, umso weniger den Wunsch verspürte, umsorgt zu werden. Die Geschichte hing irgendwie zusammen, und ich fragte mich sogar, ob mir da nicht eine Falle gestellt werden sollte, ob es das Ergebnis eines Plans war, damit ich meine Karten auf den Tisch legte. Ich hätte keinen Grund nennen können, warum meine Gefährtinnen (wie man sie nur höflichkeitshalber nennen konnte) eine solche Absicht hegen sollten – warum sie versuchen sollten, einem so einträglichen Mieter ein Bein zu stellen. Doch blieb ich für alle Fälle auf der Hut, sodass Miss Tina nicht noch einmal Gelegenheit bekam, mich zu fragen, was ich wirklich »im Schilde führte«. Arme Frau, bevor wir auseinander gingen, um uns zur Nachtruhe zu begeben, war ich mit mir im Reinen, was es mit ihr wohl auf sich hatte. Sie führte überhaupt nichts im Schilde.
    Sie erzählte mir mehr über ihrer beider Angelegenheiten, als ich erwartet hatte; ich musste nichts aus ihr herauslocken, denn offensichtlich war ihr das Gefühl, dass ich ihr zuhörte und mich um sie kümmerte, Anreiz genug, drauflos zu reden. Sie fragte sich nicht mehr, warum ich das wohl tat, und als sie mir schließlich sogar von dem glanzvollen Leben erzählte, das sie vor vielen Jahren geführt hatten, geriet sie fast ins Plaudern. Miss Tina selbst jedenfalls hielt es für glanzvoll; sie sagte, als sie sich damals, vor vielen vielen Jahren, in Venedig niedergelassen hätten – was Jahreszahlen betraf und die Reihenfolge von Ereignissen, blieb sie äußerst unbestimmt –, war keine Woche vergangen, in der sie nicht Besuch gehabt oder einen amüsanten passeggio in der Stadt unternommen hätten. Alle Sehenswürdigkeiten hätten sie sich angesehen, sogar zum Lido seien sie mit einem Boot gefahren – sie sagte es so, als könnte ich denken, man könne auch zu Fuß dorthin gehen. Dort hätten sie einen Imbiss eingenommen, den sie in drei Körben mitgebracht und im Gras ausgebreitet hätten. Ich fragte sie, welche Leute sie gekannt hätten, und sie sagte, oh, sehr nette Leute – den Cavaliere Bombicci und die Contessa Altemura, mit denen sie eng befreundet gewesen seie n ! Auch Engländer seien darunter gewesen – die Churtons, die Goldies und Mrs. Stock-Stock, die ihnen sehr lieb gewesen sei, doch leider sei sie tot, die Arme. So war es mit den meisten aus ihrem netten Zirkel – diesen Ausdruck hatte Miss Tina selbst gewählt; doch einige wenige wären noch übrig, was ein Wunder sei, wenn man bedenke, wie sehr sie sie vernachlässigt hätten. Sie erwähnte die Namen von zwei oder drei alten Venezianerinnen, außerdem den eines Arztes, eines sehr tüchtigen Mannes, der so aufmerksam sei – er käme als Freund, seine Praxis habe er bereits aufgegeben; sie erwähnte den Rechtsanwalt Pochintesta, der wunderschöne Gedichte schreibe und eines ihrer Tante gewidmet habe. Diese Leute kämen ohne Fehl jedes Jahr zu ihnen zu Besuch, gewöhnlich am Neujahrstag, und aus alter Gewohnheit habe ihre Tante für sie kleine Präsente angefertigt – ihre Tante und sie gemeinsam: Kleinigkeiten, die sie, Miss Tina, eigenhändig hergestellt habe, Lampenschirme aus Papier oder Untersetzer für die Karaffe mit Tafelwein oder solche wollenen Dinger, die man bei kaltem Wetter an den Handgelenken trage. In den letzten paar Jahren habe es nicht viele Geschenke gegeben; ihr sei nichts Rechtes eingefallen, und ihre Tante

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