Die Aufrichtigen (German Edition)
ermächtigt jeden Potentaten, seine Untertanen in den Krieg zu schicken. Dieses Recht streitig zu machen, bricht Gottes Gesetz. Die Untertanen, vor allem die Soldaten, schulden blinden, unbedingten Gehorsam, Gehorsam bis ins Kleinste, Gehorsam bis in den Tod. Es ist kein Mord, wenn einer im gerechten Krieg tötet. Denn dann geschieht es im göttlichen Auftrag. Also brauchen Soldaten weder Angst vor dem Tod, noch vor dem Töten zu haben, denn der gerechte Krieg ist Gott gefällig. Niemand darf die unzähligen Opfer beklagen, nicht die Gefallenen, nicht die Ermordeten, nicht einmal die toten Kinder. Niemand muss wegen der vielen Toten in Sorge sein, denn bis jetzt sei noch keiner bei einem Krieg gestorben, der nicht sowieso irgendwann sonst gestorben wäre.
Augustinus hat all die Angriffs- und Expansionskriege der Römer gerechtfertigt. Er hieß auf diese Weise das Morden unter den Christen, die Ausmerzung der Heiden und die Jagd auf die Juden gut. Man wundert sich nicht, dass die Römer die Lehren des Augustinus gerne hörten, dass sie den Katholizismus vor allen anderen Religionen liebten. Denn keine andere Religion gibt den Kriegsherren freiere Hand.
Die Kurie sah in Mussolini die Lichtgestalt Gottes, erkannte in seiner Politik in seinem Überfall auf Abessinien das Wirken Gottes. Der katholische Klerus nannte das Wüten Mussolinis gerecht.
Die deutschen Kardinäle und Bischöfe erkannten in Hitler einen Abglanz der göttlichen Herrschaft und eine Teilnahme an der ewigen Autorität Gottes. Der katholische Klerus unterstützte Hitlers Angriffskriege und nannte sie gerecht.
Der kroatische Erzbischof Stepinac verbreitete, dass in den Werken des Serbenschlächters Pavelic leicht die Hand Gottes zu erkennen sei. Er nannte den Völkermord gerecht.
Papst Pius XII. hielt den Atomkrieg, die gezielte Vernichtung ganzer Städte und Völker, als ultima ratio für sittlich gerechtfertigt. Sein Werk über den gerechten Krieg ist von Augustinus geprägt.
Sind die Lehren des Augustinus wirklich Vergangenheit? Ist die Entstehung der Staatskirche wirklich Geschichte?
E.A.S.
Karsamstag, 13 Uhr 52; Konstantin
Die Zugfahrt nach Mainz verging im Flug. Julia versuchte, alles zu ordnen, was sie in den letzten Tagen über ihre Familie erfahren hatte. Sie stellte sich vor, dass es leichter zu ertragen sei, wenn sie erst ein System dafür gefunden hätte. Denn nichts war mehr wie vorher, alles erschien in einem anderen Licht.
Sie ließ sich von der Menschenmenge den Bahnsteig entlang schieben, die Rolltreppe hinunter, bis sie im Keller bei den Schließfächern ankam, wo sie der beißende Geruch der Reinigungsmittel empfing. ›Wenn immer du in Zweifel gerätst, mein Kind, und die Hoffnung dich überkommt, der Mensch könne am Ende doch das Abbild Gottes sein, dann geh› an einen öffentlichen Ort, einen Platz wo viele Menschen sind, und wenn du dann immer noch hoffen kannst, dann geh‘ in ein WC am Bahnhof‹. Sollte ausgerechnet hier, an dem Ort, den er am Meisten verabscheute, das Geheimnis ihres Vaters verborgen liegen? Wie unvorstellbar verzweifelt musste er gewesen sein, wie erschüttert vor Angst! Julias Magen krampfte sich zusammen.
Das Schließfach mit der Nummer 34 war in einer der untersten Reihen hinter einer Säule verborgen. Hatte er sich hier unbeobachtet gefühlt? Der Schlüssel passte. Die Tür öffnete sich und Julia holte einen braunen Umschlag heraus. Ihre Hände zitterten, als sie las, was ihr Vater darauf geschrieben hatte.
Für meine geliebte Erstgeborene. Julia, wenn Du diesen Umschlag findest, weißt Du beinahe alles. Mein Vermächtnis für Dich findest Du darin. Alle weiteren Fragen kann Dir mein Bruder, Konstantin Spohr (Pater Donatus hier im Dom zu Mainz) beantworten. Frag‘ ihn, wie Deine Mutter gestorben ist. Verzeih mir bitte, Dein Vater
Sollte es möglich sein! Der Mann, der das Grab ihrer Schwester aufgebrochen hatte, sollte ihr Onkel sein, der Bruder ihres Vaters? Sie musste zum Dom, sie musste ihn finden!
Es dauerte eine Weile, ehe Leo sich darüber klar wurde, dass dieser Schleier, durch den er alles wahrzunehmen glaubte, nicht grau war, wie gewöhnlicher Nebel, sondern rot und trübe. Sein linkes Auge ließ sich nur schwer öffnen. Es war geschwollen. Dann erinnerte er sich, dass eine Eisenstange im Dämmerlicht auf ihn zugerast gekommen war. Sein eigenes Blut verklebte das Augenlid und tauchte alles in diesen rötlichen Schleier.
Allmählich zeichnete sich die Gestalt des Paters im Zwielicht ab.
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