Die Aufrichtigen (German Edition)
Schriften dieses Celsus dann verbrannt?«
»Jede Religion beruht darauf, dass nur ganz bestimmte Dinge überliefert und andere unterdrückt werden. Denken Sie an die Qumram Rollen oder die apokryphen Evangelien von Naq Hammadi. Ist es nicht ein Skandal, dass sie schon 1945 entdeckt worden sind und bis heute keine offizielle Auseinandersetzung der Kirche mit diesen Texten stattgefunden hat?«
»Danke«, sagte Leo abwesend und ließ die Bibliothekarin stehen.
Sie sah ihm erstaunt hinterher. Was die Frau sagte, klang wie eine Bestätigung von allem, was er von Julia gehört hatte.
Vor dem Verwaltungsgebäude stieß er auf Sophie.
»Ich habe nichts herausgefunden«, sagte sie. »Der Hausmeister weiß von nichts. Er meint, ich soll morgen wieder kommen, weil die Leiterin der Bibliothek am Samstag meistens da ist. So einen Esel habe ich selten getroffen.«
»Wieso hast du ihn nicht verhaftet?«
Leo lachte und versuchte sie zu umarmen. Sie schubste ihn weg.
»Du weißt genau, dass ich hier nichts machen kann. Mein Chef wollte sowieso nicht, dass ich herkomme. Ich habe mir Urlaub genommen.«
»Du hast was?«
»Ja, Urlaub genommen. Schau mich nicht so an. Ich habe mich auf den Ausflug mit dir gefreut. Was sollen wir jetzt machen?«
Leo strahlte sie an.
»Wir machen gar nichts. Wir brauchen niemanden mehr treffen, weil ich schon alles weiß!«
»Du?«
Er nickte und schob sie vor sich her in das Museumscafé. Als sie Milchkaffee bestellt hatten, sagte er:
»Also, während du mit dem Hausmeister geflirtet hast, habe ich mich mit der Leiterin der Museumsbibliothek unterhalten.«
Sophie riss die Augen auf.
»Ich dachte, heute ist keiner da!«
»Tja«, fuhr Leo übertrieben akzentuiert fort, »Intuition, würde ich sagen. Ich weiß auf jeden Fall, dass Professor Spohr am Montag hier gewesen ist. Er hat ein Buch eingesehen, das seither verschwunden ist.«
»Was war das für ein Buch?«
»Irgend so eine christenfeindliche Streitschrift. Celsus, ein Philosoph der Spätantike, hat darin die christliche Lehre lächerlich gemacht. Soviel habe ich jedenfalls verstanden.«
»Das wird ihm nicht besonders schwer gefallen sein!«
»Wieso?«
»Inter faeces et urinam nascimur.«
»Wie meinst du das jetzt schon wieder?«
»Na, Leo, das ist Latein und heißt, dass wir zwischen Pisse und Scheiße geboren werden. Ist übrigens vom heiligen Augustinus.«
»Und«, fragte Leo, der wieder einmal die Pointe nicht verstand.
»Was soll man denn von einer Religion halten, die uns Frauen die Kinder in Schande empfangen und gebären lässt? Dabei ist die befleckte Empfängnis doch gerade das Schöne an der Sache!«
»Hör‘ auf so was zu sagen, ich bin sowieso schon total scharf auf dich! Sag‘ mir lieber, was das Buch mit dem Mord zu tun hat.«
»Mein Gott, Leo! Dieser Celsus passt doch wunderbar zu dem Verdacht deiner Julia. Es ist vielleicht ein direkter Hinweis auf ein religiöses Tatmotiv. Der Professor hat nach Meinung seiner Tochter ein falsches Gutachten über die Fragmente von Ammianus Marcellinus gemacht. Vielleicht spielt Celsus eine Rolle bei dem Gutachten.«
Leo schüttelte den Kopf, das war es nicht. ›Der Bauch, Blum‹, hatte ihn Dr. Albertz immer wieder beschworen, ›ist wichtiger als jeder vernünftige Beweis. Also trainieren Sie ihren Bauch! Beweise mögen greifbar sein, die Intuition aber ist es, die in Wahrheit Zeichen setzt und Entscheidungen herbeiführt.‹ Natürlich, das war es! Hätte der Professor wirklich nur etwas nachlesen wollen, so hätte er das Buch nicht mitnehmen müssen.
»Nein, Sophie, er hat damit ein Zeichen gesetzt, das Buch wurde als Symbol verwendet!«
»Ein Zeichen?«
Leo sah nach draußen, noch suchte er die richtigen Worte. Vom Café aus erhob sich die mächtige Silhouette des alten Kaiserdoms.
»Wenn er wirklich ein falsches Gutachten für die Kirche gemacht hat und sogar einen Lehrstuhl dafür bekommen sollte, so ist das ein ziemlich großer Bruch für einen bedeutenden Kirchenkritiker, findest du nicht?«
»Du meinst, er zeigt mit dem Buch, dass er auf den ursprünglichen Weg zurückkehrt? Aber warum sollte die Kirche jemanden töten lassen, der ihre Linie vertritt, einmal angenommen Julias Verdacht ist berechtigt?
»Wenn er deutlich macht, wo er wirklich steht, muss der Auftraggeber fürchten, dass das Geheimnis des falschen Gutachtens in Gefahr ist. Irgend jemand könnte kompromittiert werden.«
»Und wieso soll er das Gutachten revidieren, wenn er es erst geschrieben
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