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Die Augen des Drachen - Roman

Die Augen des Drachen - Roman

Titel: Die Augen des Drachen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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sich.
    Peter breitete die Serviette über den Schoß, aß aber nicht. Der Hunger, den er vorher verspürt hatte, war nun verschwunden. Er zupfte an der Serviette und dachte an seine Mutter. Er war froh - wirklich sehr froh -, dass sie nicht mehr lebte und miterleben musste, in was er da verwickelt worden war. Sein ganzes Leben lang war er ein glücklicher Junge gewesen, ein gesegneter Junge, ein Junge, dem, so schien es manchmal, niemals ein Unglück zustoßen konnte. Nun sah es so aus, als wäre das Unglück der vergangenen Jahre nur für diesen Augenblick aufgespart worden, damit es jetzt - mit den Zinsen von sechzehn Jahren - zurückgezahlt wurde.
    Sie sagen, dass Ihr König werden wolltet und dass es so sein muss.
    In gewisser Weise verstand er das. Sie wollten einen guten König, den sie lieben konnten. Sie wollten aber auch wissen, dass sie nur um Haaresbreite von einem schlechten verschont geblieben waren. Sie wollten Finsternis und Geheimnisse; sie wollten eine grauenerregende
Geschichte verderbter Monarchie. Gott allein wusste warum. Sie sagen, dass Ihr König werden wolltet und dass es so sein muss.
    Peyna glaubt es, dachte Peter, und dieser Gardist glaubte es; sie werden es alle glauben. Dies ist kein Albtraum. Ich wurde des Mordes an meinem Vater angeklagt, und mein ganzes untadeliges Verhalten und meine offensichtliche Liebe zu ihm werden diese Anklage nicht entkräften. Und ein Teil von ihnen möchte glauben, dass ich es getan habe.
    Peter legte die Serviette sorgfältig wieder zusammen und legte sie über die frische Schüssel dampfenden Stews. Er konnte nichts essen.

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    Es kam zu einer Gerichtsverhandlung, und sie war ein großes Ereignis, und es gibt Aufzeichnungen über sie, wenn ihr euch die Mühe machen wollt, sie zu lesen. Aber hier der Kern der Sache: Peter, der Sohn von Roland, wurde von einer brennenden Maus vor den Obersten Richter von Delain gebracht; er wurde bei einer siebenköpfigen Versammlung angeklagt, die kein Gericht war; er wurde von einem Leibgardisten verurteilt, der sein Urteil verkündete, indem er in eine Schüssel Stew spuckte. Das ist die Geschichte, und manchmal verraten Geschichten mehr als Aufzeichnungen - und schneller obendrein.

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    Als Ulrich Wicks, der den weißen Stein gezogen hatte und an Peynas Stelle auf der Anklägerbank saß, das Urteil des Gerichts verkündete, applaudierten die Zuschauer - von denen viele jahrelang geschworen hatten, Peter würde den besten König in der Geschichte von Delain abgeben - heftig. Sie sprangen auf und stürmten vorwärts, und wenn eine Reihe Leibgardisten mit gezückten Schwertern sie nicht zurückgehalten hätte, dann hätten sie die Strafe lebenslänglicher Gefangenschaft in der Spitze der Nadel vielleicht eigenmächtig außer Kraft gesetzt und den jungen Prinzen gelyncht. Als er abgeführt wurde, regnete es Speichel auf ihn, der Peter ganz bedeckte. Dennoch ging er erhobenen Hauptes.
    Eine Tür an der linken Wand des Gerichtssaals führte in einen schmalen Flur. Dieser war etwa vierzig Schritte lang, dann begann die Treppe. Sie wand sich empor und empor, immer weiter nach oben, zur Spitze der Nadel, wo die beiden Zimmer, in denen Peter von nun an bis zum Tag seines Todes leben sollte, ihn erwarteten. Alles in allem waren es dreihundert Stufen. Wir werden zu gegebener Zeit wieder auf Peter, dort oben in der Spitze, in seinen Räumen, zu sprechen kommen; seine Geschichte ist, wie ihr bald sehen werdet, noch nicht zu Ende. Aber wir werden nicht mit ihm hinaufsteigen, denn es war ein schmachvoller Weg. Er verließ seinen rechtmäßigen Platz als König und ging mit herausgestreckter
Brust und erhobenen Hauptes in die Gefangenschaft - es wäre nicht freundlich, ihm oder einem anderen Mann auf einem solchen Weg zu folgen.
    Kümmern wir uns stattdessen eine Weile um Thomas und sehen wir uns an, was sich zutrug, als er seine Krankheit überwand und feststellte, dass er König von Delain war.

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    »Nein«, flüsterte Thomas mit vollkommen entsetzter Stimme.
    Die Augen in seinem blassen Gesicht waren weit aufgerissen. Sein Mund zitterte. Flagg hatte ihm gerade mitgeteilt, dass er König von Delain war, aber Thomas sah nicht wie ein Junge aus, dem man gesagt hat, dass er König geworden ist; er sah wie ein Junge aus, dem man gesagt hat, er würde am Morgen erschossen werden. »Nein«, sagte er noch einmal. »Ich möchte nicht König sein.«
    Das stimmte. Sein ganzes Leben lang war er bitter eifersüchtig auf Peter gewesen, aber um

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