Die Augen
weitermachen. Es war gar nicht so sehr der Überfall selbst, der unsere Aufmerksamkeit erregt hat – damals wurden in Seattle eine Menge Frauen umgebracht. Es war die Skizze, an der ich einfach nicht vorbeikam.«
Andy atmete tief durch. »Ich sehe, was du meinst. Scheiße. Wenn diese Zeichnung zutreffend ist, war sie das Abbild unseres ersten Opfers Laura Hughes.«
»Genau das fanden wir auch.«
Andy lehnte die Skizze gegen sein Telefon und betrachtete sie. Wahrscheinlich nur Zufall. Zum Teufel, es musste Zufall sein. Allerdings … »Hört mal, ihr zwei, es ist spät, ihr solltet nach Hause gehen. Aber wenn ihr wieder im Dienst seid, hättet ihr dann vielleicht Lust, noch mal in diesen alten Akten zu wühlen? Vielleicht ist da ja noch mehr.«
Scott nickte, begierig, stärker in die Ermittlungen eingebunden zu werden, in denen er seinem Empfinden nach bisher eher ein besserer Laufbursche gewesen war. »Klar, kann ich machen. Jenn?«
»Gern. Das ist um Längen besser, als an meinem Schreibtisch zu sitzen und einen panischen Anruf nach dem anderen entgegenzunehmen.«
Scott fragte: »Hey, Andy, meinst du, wir haben hier was? Vielleicht kopiert dieser Kerl alte Verbrechen, indem er nach ähnlich aussehenden Opfern sucht?«
»Vielleicht«, meinte Andy. »Aber freuen wir uns lieber nicht zu früh, Leute, okay? Eine Skizze hat nicht viel zu sagen, außer dass wir vielleicht alle irgendwo auf der Welt Doppelgänger haben – oder hatten. Sucht einfach weiter und zeigt mir alles, was ihr findet.«
»Da kannst du dich drauf verlassen, Andy. Sollen wir die Akte dalassen?«
»Ja.« Andy nahm die Akte entgegen und wünschte den jüngeren Polizisten einen schönen Abend. In ein Gespräch vertieft gingen die beiden hinaus, und Andy vergeudete vielleicht eine Minute auf die Frage, ob die beiden miteinander schlafen mochten. Falls ja, wäre das keine große Überraschung, sie wären nicht das erste Pärchen in der Abteilung. Aber er hoffte, sie wären klüger.
Als er wieder allein war, starrte er die Skizze einer jungen Frau an, die schon lange tot und vergangen war. Von wegen – zweifach tot und vergangen, zumindest sah es so aus. Pamela Hall, 1934 erstochen, nachdem sie brutal vergewaltigt worden war; Laura Hughes, im Jahre 2001 brutal vergewaltigt und geschlagen, geblendet, wenige Tage später ihren Verletzungen erlegen.
Die beiden Frauen sahen sich nicht einfach ähnlich – sie waren praktisch identisch, bis hin zu dem kleinen Muttermal am linken Mundwinkel. Doch die Skizze hatte ein Zeichner erstellt, dessen einziger Anhaltspunkt das übel zugerichtete Gesicht des Opfers gewesen war, und Andy sagte sich, dass Künstler wohl kaum unfehlbar waren.
Außer Maggie jedenfalls.
Andy durchkämmte die Akte, doch sie enthielt äußerst wenig Informationen. Aus dem Tonfall der Notizen ging hervor, dass der Mord an dieser jungen Frau den ermittelnden Polizisten nahe gegangen war, sie aber nicht überrascht hatte. Man hatte es eindeutig für ihre eigene Schuld gehalten, sie hatte sich eben in Gefahr begeben. Dennoch hatten sie eine Weile methodisch ermittelt – und waren dann zum nächsten Verbrechen übergegangen, das ihre Aufmerksamkeit erfordert hatte.
Der Obduktionsbericht war ebenso wenig hilfreich. Das Opfer war am Blutverlust und am Schock gestorben. Es gab Anzeichen für gewaltsame geschlechtliche Handlungen , und man hatte sie grün und blau geschlagen. Nach Meinung des Arztes hatte sie sich gegen ihren Angreifer gewehrt, was die Verletzungen an Armen und Händen belegten, doch sie war ihm ganz eindeutig nicht gewachsen gewesen.
Andy musterte die Skizze erneut. Hatten Scott und Jennifer Recht mit ihrer Mutmaßung? Wählte ihr heutiger Serienvergewaltiger seine Opfer anhand von alten ungelösten Verbrechen aus?
Es war selbstverständlich absurd, diese Vermutung auf ein einziges Beispiel zu gründen, doch Andy konnte nicht anders, als selbst Vermutungen anzustellen. Bisher hatten sie noch kein Muster und keine innere Logik darin erkennen können, wie und wo der Vergewaltiger seine Opfer auswählte. Eine der Frauen war aus einem gut besuchten Einkaufszentrum entführt worden, eine andere aus ihrer Wohnung in einem gut gesicherten Wohngebäude.
Das Kriterium »leichte Zugänglichkeit« war somit ausgeschlossen, und dies bedeutete, dass er seine Opfer anders und mit Bedacht wählte.
Konnte es sein, dass er alte ungelöste Verbrechen benutzte?
Und falls ja, hatte er seine Informationen aus Büchern? Oder aus den
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