Die Augen
im lebhaften Gesicht seines Freundes. »Was?«, wollte er wissen. »Was stimmt nicht mit Maggie?«
»Was nicht stimmt? So würde ich das nicht nennen.« Quentin atmete tief durch. »Aber ich beneide deine Maggie nicht, das kann ich dir sagen.«
John sagte nichts zu dem besitzanzeigenden Fürwort. »Warum?«
»Das erklärt vieles«, sinnierte Quentin. »Wie sie eine so starke Verbindung zu den Opfern herstellen kann, wie sie so genau zeichnen kann, was sie sehen. Junge, Junge, kein Wunder, dass es für die Leute um sie herum aussieht wie Zauberei.«
»Sie ist eine Hellseherin?«
»So einfach ist das nicht, John. Es gibt Hellsehen … und dann gibt es Begabung. Beziehungsweise Fluch. Hast du gerade ihr Gesicht gesehen? Sie hat fürchterliche Qualen gelitten. Wirkliche körperliche Schmerzen.«
»Warum? Was hat sie verletzt?«
»Er hat sie verletzt. Der Vergewaltiger. Er hat sie überfallen, sie vergewaltigt und geschlagen, ihr die Augen genommen – und sie dann einfach hier liegen gelassen.« Quentin schüttelte den Kopf. »John, das hat Maggie gefühlt. Sie hat alles gefühlt, was Hollis Templeton vor mehr als drei Wochen hier in diesem Raum gefühlt hat.«
5
Jennifer Seaton war eine gute Polizistin. Doch obendrein war sie eine Polizistin mit Intuition, die gelernt hatte, auf eine Eingebung zu hören. Während Scott also am Telefon versuchte, den fehlenden Akten auf die Spur zu kommen, setzte sie sich an ihren Computer, rief den Bibliothekskatalog des Bundesstaats Washington auf und führte eine ganz andere Art von Recherche durch.
Sie stieß vor Scott auf eine viel versprechende Spur, doch da es später Samstagnachmittag war, benötigte sie eine weitere halbe Stunde, ehe sie eine Bibliothek gefunden hatte, die noch geöffnet hatte.
»Ich verstehe Ihren Wunsch, Detective«, sagte die Bibliotheksleiterin, deren verwirrter Tonfall diese Aussage Lügen strafte, »aber wir schließen in zehn Minuten …«
»Polizeilicher Notfall«, sagte Jennifer und missbrauchte so skrupellos ihre Autorität. »Wenn Sie sie mir zurücklegen könnten, bis ich komme, wäre ich Ihnen sehr verbunden. Ich fahre jetzt gleich los.«
Als sie das Gespräch beendete und aufstand, meinte Scott säuerlich: »Na klar, lass mich einfach mit dem Kram hier sitzen, super.«
»Irgendwas gefunden?«, fragte sie, blieb an seinem Schreibtisch stehen und kramte in ihrer Tasche nach einem weiteren Zahnstocher mit Zimtgeschmack.
»Bis jetzt habe ich nur eine immer länger werdende Liste mit Polizeiwachen, bei denen alte Akten im Keller lagern. Keiner weiß so richtig, was sie da haben, und niemand bietet an, dass er mal nachsehen geht, besonders nicht an so einem kalten Samstagnachmittag. Und ich kann’s ihnen nicht verdenken.« Er fuhr sich mit den Fingern durch die Haare und sah zu ihr hoch. »Machst du für heute Schluss?«
»Nein, ich bin in etwa einer halben Stunde zurück. Vielleicht habe ich eine Abkürzung für uns gefunden – oder zumindest eine weitere Informationsquelle, die wir nutzen können.«
»Hm, bring mir was zu essen mit, ja? Ich hab das Mittagessen verpasst, und hier gibt es nur noch altbackene Sandwiches und richtig altbackene Donuts.«
Jennifer nickte. »Ich schaue mal, was ich finde. Wo ist Andy?«
»Frag mich was Leichteres. Vor einer Minute war er noch an seinem Schreibtisch.«
»Falls er vor mir wieder da ist, sag ihm, er soll nicht nach Hause gehen, bevor ich nicht mit ihm gesprochen habe, ja?«
»Geht klar.«
Jennifer verließ die Polizeiwache und ging zu dem Parkplatz an der Seite des Gebäudes, wo ihr Auto stand. Die Straßenlaternen waren schon an, obwohl man im Zwielicht noch ausreichende Sicht hatte. Neben ihrem Wagen blieb sie einen Augenblick stehen. Ihr war unbehaglich zumute, ohne dass sie dafür einen Grund hätte anführen können. Dass sie aus dem Bauch heraus handelte, hieß nicht, dass sie übermäßig fantasievoll gewesen wäre. Deshalb überraschte es sie, als sie merkte, dass sie unleugbar eine Gänsehaut hatte.
Sie spürte es ganz plötzlich, ein Frösteln, dass ihr langsam über den Körper kroch und ihr die Haare im Nacken zu Berge stehen ließ. Ihre Mutter hatte dazu gesagt: »Da läuft jemand über mein Grab.« Es war kein gewöhnliches Gefühl. Jennifer hatte gelernt, auf so etwas zu achten und vorsichtig zu sein. Denn wie ihr klar geworden war, bedeutete es immer, dass ihr Unterbewusstsein etwas Wichtiges und/oder Gefährliches bemerkt hatte, das ihrem Bewusstsein bisher entgangen
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