Die Auserwählte: Roman (German Edition)
getan hätte. Ich dachte, ich wäre dazu in der Lage. Ich hab keine andere Möglichkeit gesehen …«
»Keine andere Möglichkeit wozu? Um mich vor mir selbst zu schützen?«
Er ging einen Schritt auf mich zu, blieb jedoch stehen, als ich zur Tür zurückwich.
»Mia«, sagte er behutsam. »Ich weiß nicht, wie ich es sonst formulieren soll … Ich habe versucht, es dir zu zeigen, aber offenbar hast du es nicht verstanden. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass du in den nächsten Tagen etwas Schreckliches tun wirst. Etwas, das ich zu verhindern versuche.«
Ich zitterte am ganzen Körper. »Etwas, das du verhindern wolltest, indem du mich tötest.«
»Aber ich habe es doch nicht getan!«
»Das ist mir egal«, sagte ich, packte den Türknauf und riss daran. »Lass mich in Ruhe. Wenn du noch einmal in der Nähe unseres Hauses aufkreuzt, rufe ich die Polizei oder die Miliz oder sonst irgendjemanden.«
»Mia, bitte …«
Ich gab ihm nicht die Gelegenheit, seinen Satz zu vollenden. Ich schlüpfte durch die Tür, schloss sie hinter mir ab und sah zum Fenster hinaus, bis Jeremy ging. Erst dann, eine gefühlte Ewigkeit später, konnte ich wieder atmen.
Bevor ich in mein Zimmer ging, kontrollierte ich jede Tür und jedes Fenster im Haus.
Auch als ich unter meiner Decke im Bett lag, hörte ich nicht zu zittern auf. Mir war nicht kalt.
Mir war nie kalt.
Ich hatte Angst.
Zweiter Teil
»Keine Wolke am Himmel …
Man sieht die Sonne nicht, aber Wolken sieht man auch keine.«
Flannery O’Connor,
Ein guter Mensch ist schwer zu finden
und andere Erzählungen
15. April
Zwei Tage vor dem Unwetter …
16
N achdem ich die ganze Nacht wachgelegen und meine Sorgen aufeinandergestapelt hatte, als wollte ich meinen eigenen Turm errichten, kletterte ich aus dem Bett, als der erste Lichtschimmer mein Fenster erreichte. Es war noch nicht einmal sechs Uhr, doch ich sollte mich um sieben in Mr Kales Klassenzimmer zur Initiation einfinden, was auch immer das zu bedeuten hatte. Vorher musste ich Parker noch von der Abmachung mit Katrina erzählen.
Als ich im Badezimmer den Wasserhahn aufdrehte, um mir die Zähne zu putzen, tat sich nichts. Ich hörte nur das trockene Röcheln der Rohre. Die Wasserversorgung war wieder einmal außer Betrieb. Ein toller Start in einen weiteren Tag einer ganzen Reihe schlechter Tage. Ich würde ein paar Schritte meiner morgendlichen Routine überspringen müssen, aber was sollte es? Wen wollte ich beeindrucken? Ganz sicher nicht Jeremy, den Stalker mit Mordambitionen.
Ich hatte meine Drohung, die Polizei anzurufen und Jeremys Einbruch mit versuchter Körperverletzung zur Anzeige zu bringen, nicht wahrgemacht, ging aber davon aus, dass er sich so bald nicht mehr Zugang zu unserem Haus verschaffen würde. Trotzdem ahnte ich, dass ich ihn nicht zum letzten Mal gesehen hatte.
Ich zog ein ähnliches Outfit an wie am Tag zuvor – schwarzer Rollkragenpullover, schwarze Jeans, schwarze Stiefel, schwarze fingerlose Handschuhe –, stellte fest, dass ich mir nicht sicher war, ob es sich nicht tatsächlich um dieselben Sachen handelte, die ich schon gestern getragen hatte, kam zu dem Schluss, dass es mir egal war, und ging nach unten.
Eigentlich hatte ich geglaubt, ich sei die Einzige, die schon so früh wach war, doch ich hörte jemanden in der Küche. Ich nahm an, dass es sich um Parker handelte. Schließlich ging er davon aus, dass seine Einladung zur Initiation noch galt. Ich wappnete mich gegen seine Reaktion, wenn er erfuhr, wie und warum sich die Dinge geändert hatten.
Als ich die Küche betrat, blinzelte ich überrascht. Mom stand an der Anrichte, nicht Parker. Sie war mit sauberen Sachen bekleidet, und ihr Haar war nach hinten gebunden und hing ihr nicht wie sonst in fettigen Strähnen ins Gesicht und verdeckte ihre Narben. Diese waren jetzt voll sichtbar: ein rosaroter Strich auf ihrer Stirn, einer unter ihrem linken Auge und mehrere nebeneinander auf ihrer rechten Wange.
»Guten Morgen«, sagte Mom und lächelte mich an. Aus dem Toaster sprangen zwei Scheiben Toast. Wenigstens hatten wir noch Strom. Mom nahm sie, legte sie auf einen Teller und steckte noch zwei Scheiben in den Toaster. »Ist noch Butter oder Marmelade da?«
Ich schüttelte den Kopf. Ich hatte Probleme, Wörter aus dem Grundvokabular wie »ja« oder »nein« abzurufen.
Mom zog eine Grimasse. »Trockener Toast. Hm. Na ja, Haferbrei habe ich auch gemacht.« Sie deutete auf drei Schüsseln mit gerinnender Pampe auf dem
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