Die Auserwählten
solltest etwas Böses tun.«
»Vielleicht. Aber es ist nichts Böses daran, mit dir in dein Zimmer zu gehen.«
Niels schloss die Tür hinter sich und hörte Hannah draußen auf dem Flur mit sich selbst reden. » Etwas Böses tun «, sagte sie zweimal, bevor sie ihre Tür aufschloss und hinter sich zuwarf.
***
Das Mal war deutlicher geworden. Niels studierte seinen Rücken im Badezimmerspiegel. Er drehte seinen Kopf so weit wie möglich und betrachtete die leicht erhabene, gerötete Haut. Nur ein Ausschlag. Ein Ausschlag mit eigenem Willen. Aber Zahlen konnte er keine erkennen. Noch nicht.
Niels ging zum Tisch und setzte sich. Er konnte nicht schlafen. Angetrunken und müde war nicht gleichbedeutend mit ruhig. Er ignorierte das »No Smoking«-Schild an der Tür, zündete sich eine Zigarette an und zählte nach, wie viele noch in der Packung waren. Dann sah er sich im Zimmer um. Er dachte an Hannah. An ihre Trauer. Und an Kathrine und daran, wie viel er für sie empfand, wenn sie Tausende von Kilometern entfernt war. Das war irgendwie mehr, als wenn sie direkt vor ihm stand. Er versuchte, sich dieses Gefühl aus dem Kopf zu schlagen, aber es hatte sich festgesetzt. Zwei Zigaretten später spielte sich ihr letzter Streit, Satz für Satz, so plastisch vor ihm ab, als wären sie beide im Zimmer: Wie zwei dilettantische Schauspieler standen sie sich gegenüber und schrien sich an. Fast wäre er wie ein Ringrichter zwischen sie gegangen und hätte »break« gerufen und sie in ihre Ecken verwiesen. Ihn in die Nordseeecke, sie in die Südafrika-Ecke.
Irgendetwas brachte ihn dazu, die Schublade des Tischchens zu öffnen. Er fand ein Telefonbuch und eine nicht abgeschickte Postkarte an irgendeine Oma in Gudhjem. Und eine Bibel. Er nahm das Buch mit dem dunklen Einband heraus und blätterte darin herum. Abraham. Isaak. Rebekka . Es war eine Ewigkeit her, dass er zuletzt eine Bibel in den Händen gehalten hatte. Er hängte das Schulterhalfter mit der Pistole über den Stuhl und spürte, wie seltsam es war, diese beiden Dinge – Bibel und Pistole – so dicht beieinander zu haben. Doch dann kamen ihm die Beatles zu Hilfe. Nur Popmusik war in der Lage, derart widerstrebende Gefühle zu lösen. Er war angetrunken – mehr als angetrunken –, sonst hätte er sicher nicht angefangen, vor sich hin zu singen:
Rocky Raccoon checked into his room
Only to find Gideon’s Bible
Rocky had come equipped with a gun
Niels legte sich auf den Rücken, schloss die Augen und summte noch eine weitere Strophe, ehe der Schlaf ihn übermannte.
9.
9.
Niels öffnete den Schrank im Badezimmer. Jemand hatte Mückenspray und eine Flasche Sonnencreme, Lichtschutzfaktor 25 zurückgelassen. Niels schmierte sich etwas Creme auf die Hand und roch an dem alten Mückenspray. Es duftete nach Sommer. Verrückt, dachte Niels. Ein Industrieprodukt – vermutlich hergestellt vor mehr als fünf Jahren irgendwo in Polen –, und trotzdem krochen ihm von allen Seiten die Erinnerungen entgegen. Sonne und Mücken, Wasser, Eis und Holunder.
Er setzte sich auf den Badewannenrand. Das Gefühl in seiner Brust: Er wollte leben. Wollte nicht sterben, er hatte doch noch so viel vor.
Sonntag, 20. Dezember
Natürlich ließ sich das machen, dachte Niels, als er die Dusche aufdrehte. Der Plan war gut. Die Morphintabletten warteten einsatzbereit auf dem Rand des Waschbeckens –, und er hatte mehr als genug von ihnen. Er musste auf ein Boot, sich betäuben und dann lange, lange wegbleiben.
»Niels?«
»Einen Augenblick.« Er drehte die Dusche aus, wickelte sich das Handtuch um die Hüfte und steckte den Kopf aus der Tür.
»Kommst du frühstücken? Die räumen um neun Uhr ab.«
Erst jetzt sah er, dass sie seine Pistole in der Hand hielt. »Hannah, die ist geladen!«
»Entschuldige, aber die lag am Boden, und … hier!« Sie reichte ihm die Waffe.
Er nahm das Magazin heraus und gab sie ihr zurück. »So kann sie niemanden verletzen.«
»Sicher?«
»Ja, jetzt ist sie gesichert. Aber wenn man das macht …« Er reichte ihr das Magazin und zeigte ihr, wie man es in die Pistole schob. »Dann kannst du schießen.«
»Vorher hat sie mir besser gefallen. Hast du schon mal auf jemanden geschossen?«
Er schüttelte lächelnd den Kopf. »Hast du vergessen, dass ich einer von den Guten bin?«
»Liest du deshalb hier drin?« Sie zeigte auf die Bibel, die auf dem nicht gemachten Bett lag.
»Möglich.«
Sie schmunzelte. »Wir sehen uns dann unten.«
Als sie gegangen
Weitere Kostenlose Bücher