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Die Auserwählten

Die Auserwählten

Titel: Die Auserwählten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A. J. Kazinski
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rutschte auf dem glatten Schnee aus, konnte den Fahrradlenker nicht mehr halten und fiel rücklings durch die Ladentür. Niels sah zu Hannah hinüber. Sie hatte noch nichts bemerkt. Er drehte sich wieder um: der Zug, der Volvo, die kaputte Schranke, die Mädchen, die Fahrräder, Hannah im Laden, die blockierte Tür. Niels rannte wild mit den Armen rudernd dem Auto entgegen, um es anzuhalten. Irgendwo hinter den Dünen hörte er den Zug.
    »Stopp! Anhalten!« Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte Niels, der Fahrer hätte ihn gehört. Er stand auf halber Strecke zwischen Kiosk und Schienen und hatte mit einem Mal das gleiche Gefühl wie auf der Rückbank des Streifenwagens, der ihn zurück nach Kopenhagen bringen sollte. Das Gefühl, als würde er von etwas fortgezogen.
    Als der Fahrer den Zug erblickte und mit voller Wucht auf die Bremse trat, war es bereits zu spät. Die Bremsscheiben blockierten, und das Auto rutschte mit quietschenden Reifen auf die Schienen zu. Der Schnee wirkte wie eine Rutschbahn und gab dem Wagen zusätzlich Fahrt. Dann wurde das Heck des Volvos vom Zug getroffen, und ein dumpfer Laut, wie Niels ihn noch nie zuvor gehört hatte, erreichte ihn. Er sah wieder zum Laden. Hannah riss an der Tür, um nach draußen zu gelangen. Die Mädchen. Der Volvo schlingerte auf sie zu. »Lauft weg! Rennt!« Die Mädchen taten das Gegenteil. Sie blieben wie versteinert stehen und starrten regungslos zu Niels hinüber, der auf sie zurannte. Hinter sich hörte er das Auto.
    »Lauft! Weg!«
    Endlich erfasste eines der Mädchen die Situation. Niels schrie die Mädchen an, wedelte mit den Armen: »Lauft weg! Los! Lauft!« Niels blickte zur Seite. Wo war das Auto? Für den Bruchteil einer Sekunde registrierte er den entsetzten Blick des Fahrers. Dann raste das Auto in den Laden, in Hannah, in Niels.

10.
    10.
    Dunkelheit In der Ferne ein leises Tropfen. Oder war es ganz nah? Egal. Eine wunderbare Ruhe und eine Schutz gebende Dunkelheit. Wie eine Decke, die er zur Seite schlagen konnte, wenn ihm danach war. Aber er wollte nicht. Die Dunkelheit behagte ihm.
    Stimmen. Jemand rief. Weinen. Schreie. Etwas stieg ihm in die Nase: der Gestank von Benzin. Alkohol. Gin. Geschmack von Blut im Mund. Empfindungen, die er aussperren wollte, die er fortwünschte. Aber jemand zog ihm die Decke weg. Und ein fremdes Augenpaar sah ihn an.
    »Sind Sie in Ordnung?« Die Stimme bebte. Niels konnte sie kaum hören.
    »Die Schranke war nicht geschlossen …«
    »Ich habe einen Krankenwagen gerufen.«
    Niels bewegte den Mund. Tat er das wirklich?
    »Ich weiß es nicht«, sagte der Mann. Er weinte.
    »Was?«
    »Die Mädchen? Hatten Sie nicht nach ihnen gefragt?«
    Dunkelheit.
    Dieses Mal für eine Ewigkeit. Oder waren es nur ein paar Sekunden? Er war unter Wasser. Auf einem Weg, der weit weg führte. Tauchte ins Dunkel ab. Wünschte sich zu verschwinden, abzutauchen. Einfach nur weg. Nein. Er musste fort. Einen Kutter finden. Er dachte an Silvesterdorsch.
    Wieder der Klang von Stimmen. Dieses Mal tiefer. Konnte er denn keinen Frieden bekommen?
    »Bleiben Sie still liegen. Versuchen Sie, nicht zu sprechen.«
    Redete die Stimme mit ihm?
    »Versuchen Sie, ruhig zu atmen. Still und ruhig. Wir kümmern uns um alles.«
    Eine andere Stimme, dieses Mal hell und klar: »Kommt der Rettungshubschrauber?«
    Und eine Antwort, die er nicht hörte.
    Aber er hörte seine eigene Stimme: »Nein … ich will nicht. Ich will nicht …«
    »Bleiben Sie einfach nur still liegen. Wir helfen Ihnen.«
    Noch immer keine Schmerzen. Niels spürte seinen Körper nicht. Was war geschehen? Er sah Hannah vor sich. Und das Meer. Den breiten, hart gefrorenen Strand. Und zwei kleine Mädchen mit Strickmützen und Süßigkeiten. Zwei kleine …
    »Die Mädchen?« Da war sie wieder – seine Stimme. Sie führte ihr eigenes Leben.
    »Ja?«
    Das Knattern von Rotoren. Oder träumte er das nur?
    »Da waren zwei kleine Mädchen.«
    Die andere Männerstimme mischte sich ein. »Wir müssen ihn da rausholen.«
    »Die Mädchen.«
    Etwas hob ihn hoch. Wie in einem Traum aus seiner Kindheit. Seine Mutter hob ihn hoch, legte ihn an ihre Brust. Kathrine. Jetzt sah er sie vor sich. Sie trat aus dem Dunkel, beugte sich über ihn und flüsterte: »Niels. Solltest du jetzt nicht am Flughafen sein?«
    »Eins, zwei, drei.«
    War er es, der schrie?
    »Morphin. Schnell«, sagte eine Stimme weit entfernt.
    Ja, Morphin. Und dann aufs Boot. Eine Koje, weit weit weg von Kopenhagen. Die Doggerbank,

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