Die Auserwählten
war, zog Niels sich an. Er machte umständlich das Bett und legte die Bibel zurück in die Schublade. Danach ging er noch einmal zurück ins Bad, betrachtete sich im Spiegel und zog schließlich sein Hemd hoch. Das Mal war deutlich zu erkennen; es reichte von Schulter zu Schulter und führte bis zur Mitte seines Rückens hinab; feine Linien, die sich unter der Haut abzeichneten. Er trat einen Schritt näher an den Spiegel. Konnte er Zahlen erkennen? Vielleicht verschwand dieses Ding ja von selbst, wenn er aufhörte, daran zu denken?
***
Später machten sie einen Spaziergang am Strand. Es wehte noch immer ein heftiger Wind, aber der Sturm war abgeflaut.
»Ich weiß noch, dass wir hier irgendwo in einem Bunker waren«, sagte Hannah.
»Als du Kind warst?«
»Glaubst du, wir können einen finden?«
Niels ließ seinen Blick über den Strand schweifen. Küstennebel. Autos, die auf dem Sand fuhren. Die Reise seines Blickes endete bei Hannah. Er war fasziniert von der Art, wie ihr Haar im Wind flatterte und ihr Gesicht liebkoste.
»Was ist denn?«
»Nichts«, antwortete er. »Wieso?«
»Du siehst mich so an.« Sie gab ihm einen Stoß. »Komm, alter Mann, lass uns die Dünen hinauflaufen.«
Hannah rannte los. Niels folgte ihr. Sand in den Schuhen, in den Haaren. Er rutschte auf dem Weg nach oben weg und hörte Hannahs Lachen.
»Lachst du mich aus?«
»Du bist so ungeschickt.«
Er stapfte mit größter Entschlossenheit weiter und gab sich Mühe, als Erster oben anzukommen, doch schließlich waren sie gleichzeitig oben. Außer Atem und vollkommen versandet ließen sie sich in die Heide und das winterharte Gras fallen. Hier waren sie geschützt vor dem Wind.
Einen Moment lang blieben sie liegen, ohne etwas zu sagen.
»Du hast gesagt, dass du in der Bibel liest«, sagte sie.
Er drehte den Kopf und sah sie an.
»Ein bisschen.«
»Was hast du gelesen?«
»Das Gleichnis von Abraham und Isaak.«
»Dass Gott Abraham bittet, seinen erstgeborenen Sohn Isaak mit auf den Berg zu nehmen und ihn zu opfern?«, fasste sie zusammen.
»Ich habe mal einen Pastor im Radio sagen gehört, dass man diese Geschichte in der dänischen Volkskirche eigentlich verbieten sollte.«
»Sie beinhaltet aber eine wichtige Botschaft«, sagte sie. »Etwas, das wir vergessen haben.«
»Das du mir jetzt aber gleich sagen wirst?«
Sie lachte. »Ich benehme mich wirklich wie eine Oberlehrerin. Entschuldige.« Sie richtete sich auf. »Ich glaube, dass uns das Gleichnis sagen will, dass wir zuhören müssen. Nur ein einziges Mal.«
Niels sagte nichts.
»Aber du hast Recht. Die Geschichte ist unangenehm. Hätte er sich da nicht etwas anders ausdrücken können?«
»Glaubst du daran?«
»Daran?«
»Ach, du weißt schon.«
»Traust du dich wirklich nicht, seinen Namen in den Mund zu nehmen?«
»An Gott.«
Hannah blickte in den Himmel.
»Ich glaube an das, was wir noch nicht wissen. Und das ist so unbeschreiblich viel – viel mehr, als uns bewusst ist.«
»Die vier Prozent?«
»Genau. Vier Prozent. Von vier Prozent des Universums wissen wir, woraus es besteht. Aber versuch mal, das einem Politiker zu erklären und ihn um Gelder für weitere Forschungen zu bitten. Da ist es schon deutlich besser, im Brustton der Überzeugung zu proklamieren, dass der Meeresspiegel steigen wird, und zwar mindestens um zweieinhalb Meter in den nächsten …« Sie unterbrach sich selbst, richtete sich auf und sah ihn ernst an. »Polykrates. Ein griechischer König. Hatte Erfolg, was er auch tat. Wälzte sich geradezu im Glück: Frauen, Reichtum, militärische Siege. Polykrates hatte einen Freund – irgendeinen ägyptischen Herrscher –, der ihm geschrieben hat, dass er – also Polykrates – etwas opfern müsse. Das, was ihm am wichtigsten sei. Um die Götter zu besänftigen. Polykrates dachte eine ganze Weile nach. Dann ruderte er aufs Meer hinaus und warf den Ring ins Wasser, der ihm am wertvollsten und teuersten war. Am nächsten Morgen brachte ihm ein Fischer einen Fisch, den er gefangen hatte, um seinem König Polykrates die Ehre zu erweisen. Als der Koch ihn aufschnitt, um ihn zuzubereiten, fand er – na was wohl?«
»Den Ring.«
»Genau, den Ring. Polykrates’ Freund, der gerade bei ihm zu Gast war, kündigte ihm daraufhin die Freundschaft. Er wollte nicht in Polykrates’ Nähe sein, wenn die Rache der Götter ihn eines Tages treffen sollte.«
Hannah kniete sich in den Sand, und der Wind begann wieder mit ihren Haaren zu spielen. »Das ist
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