Die Aussortierten (German Edition)
mussten nicht weniger um ihre Arbeitsplätze zittern als Arbeiter und kleine Angestellte. Mit Ausnahme der verbeamteten Akademiker im Staatsdienst, wie er selber einer war. Aber Leute wie er, die eigentlich diesem Staat und dem ‚real existierenden Kapitalismus’ höchst kritisch gegenüberstanden, weil dieser Staat nichts mit dem Staat zu tun hatte, wie er im Grundgesetz definiert war, mussten dafür einen hohen Preis zahlen: Sie mussten ständig einen Spagat zwischen ihren eigenen, authentischen Wertvorstellungen und dem, was der Staat ihnen abverlangte, machen. Es war wirklich nicht einfach, dabei seine Seele nicht zu verlieren.
Es kostete de Wall viel Kraft und Energie, sich selber treu zu bleiben, und manchmal befürchtete er, dass er sich in einem schleichenden Prozess zu einem konformistischen Beamten entwickeln würde, der er nie sein wollte. Deshalb war für ihn die Lektüre guter politischer Literatur jenseits der Tagespolitik so wichtig. Hieraus konnte er die Kraft schöpfen, die er brauchte, um die Konflikte des Alltags auszuhalten und der Versuchung zu widerstehen, sich das Leben leicht zu machen und die eigene Fahne auf die jeweils gerade herrschende Windrichtung auszurichten. Auch wenn er gerne etwas anderes geworden wäre, so war er doch auch überzeugt, wie er vor einiger Zeit am Telefon seiner Ex-Geliebten Judith erklärt hatte, dass Leute wie er sich auch engagieren mussten, wenn sich etwas ändern sollte. Denn sonst würden die stromlinienförmigen Karrieristen ewig am längeren Hebel sitzen. Und das hieß: Nicht vor den Hierarchien und Statuskämpfen in Staat und Gesellschaft in vermeintliche Paradiese zu entfliehen, sei es in das Paradies der Kunst oder in die Freiheit der Bedürfnislosigkeit. Aber manchmal war der Staatsapparat für einen Menschen wie de Wall einfach unerträglich, und er wollte nur noch eins: Zeit und Muße, um mit sich allein zu sein. In so einer Stimmung war er an diesem Morgen. Deshalb war er froh, dass das Wetter so schön war und seine Seele aufhellte. Er war gespannt, was ihn heute Nachmittag erwarten würde. Frank kam aus einer ehrgeizigen kleinbürgerlichen Familie. Seine Eltern hatten ein Schreibwarengeschäft und waren stolz auf ihren ohne Zweifel sehr begabten Sohn. So wie de Wall aus seiner Erinnerung heraus Franks Familie sah, war Frank als einziges Kind der ganze Stolz und Lebensinhalt seiner Eltern. Und wie so oft in solchen Fällen sollte er „es einmal besser haben“ – der verklausulierte Ausdruck von Eltern dafür, dass Kinder die Stufen des sozialen Aufstiegs erklimmen sollten, die ihnen verwehrt geblieben waren. Und der Inbegriff für diesen sozialen Aufstieg war der Beruf des Arztes. Frank sollte einmal Arzt werden! Und natürlich nicht nur ein Wald-und-Wiesen-Landarzt, sondern Chefarzt einer großen Klinik, Medizinprofessor, auf jeden Fall etwas Herausgehobenes. Die ganze Sache hatte nur einen Haken: Frank hatte zu allem, was mit diesem Beruf zu tun hatte, nicht die geringste Neigung. Schon wenn er im Fernsehen auch nur die Geburt eines Kalbes sah, wurde ihm schlecht. Für eine Impfung per Spritze hätte er eigentlich eine Vollnarkose gebraucht. Aber insbesondere seine ehrgeizige Mutter übersah geflissentlich alle diese Anzeichen und redete ihm ein, er wäre geradezu die Idealbesetzung eines Arztes. Und sein Vater schwieg. Und so fing Frank ein Medizinstudium an, und es kam, wie es kommen musste. Schon nach einem Semester war er psychisch völlig am Ende. Ein Psychotherapeut, zu dem ihn die Psychologische Beratungsstelle der Universität geschickt hatte, übernahm dankenswerterweise die Aufgabe, vor allem seiner Mutter beizubringen, dass es mit der Medizinerkarriere ihres Sohnes nichts werden werde. Offenbar war damals keiner aus seiner Familie inklusive Frank selbst daraus schlau geworden. Denn das nächste Studium, das Frank begann, war Jura. Richter am Bundesverfassungsgericht war ja auch nicht schlecht! Das, so vermutete de Wall, waren so in etwa die Phantasien von Landuris Mutter gewesen. Natürlich ging auch das schief, denn Frank war einfach nicht der Mensch, dem es Spaß machen konnte, sich mit juristischen Texten auseinanderzusetzen. Nach diesen Erfahrungen fasste Frank endlich den Mut, mal eine eigene Entscheidung zu treffen und in der Familie durchzusetzen. Er begann ein Studium der Germanistik und Geschichte – und war vom ersten Tag an glücklich und zufrieden. Aber sein Berufsziel, nämlich sich nach seinem Studium als
Weitere Kostenlose Bücher