Die Ballonfahrerin des Königs
André.
«Das kann unmöglich dein Ernst sein!», entfuhr es Marie-Provence. Doch gleichzeitig hörte sie fassungslos ihre innere Stimme
aufjubeln: Was willst du mehr? Lass ihn den Ballon hochbringen und dann abspringen. Das ist die Lösung all deiner Probleme!
Und in der Tat, bisher hatte ihr Plan einen großen Schwachpunkt aufgewiesen: Wie würde André reagieren, wenn sie beide zusammen
im schwebenden Ballon standen und er mitbekam, dass das ganze Unternehmen nur Charles’ Befreiung diente? Würde er Marie-Provence
an der Ausführung des Vorhabens hindern wollen? Versuchen, sie gewaltsam auf den Boden zurückzubringen? Das war nicht auszuschließen.
Sie hätte ihren kräftigen Geliebten irgendwie in Schach halten müssen – und auf hundert Metern Höhe mit einer Schusswaffe
unter einem Ballon rumzufuchteln, der mit entzündbarem Gas gefüllt war, konnte sich durchaus als problematisch erweisen. So
aber fügte sich alles wunderbar.
Etwas in ihr schrie auf, protestierte. Sie müsste den Ballon alleine über die Stadtgrenze fliegen und zur Landung bringen,
das war unmöglich! Nein, das war es nicht.
Du kannst das. Du wirst ihn dazu bewegen, es dir beizubringen.
Sie war wie gelähmt. Ihr Blick haftete an André, der lächelnd und bereitwillig die Fragen beantwortete, die auf ihn niederprasselten.
Seine Begeisterung sprang auf seine Zuhörer über, |319| zog unwillkürlich die Aufmerksamkeit anderer Personen auf sich, die in der Nähe standen und nun herbeidrängten. Kleine Gruppen
bildeten sich, rege Diskussionen entstanden, die immer wieder von den Ausrufen «Unmöglich!», «Verrückt!» und «Tollkühn!» unterbrochen
wurden. Die Herren schüttelten halb missbilligend, halb bewundernd den Kopf, während die Damen mit geröteten Wangen danebenstanden
und André verstohlen musterten.
Am liebsten hätte Marie-Provence André gepackt und ihn aus dem Kreis gezerrt. Plötzlich sehnte sie sich nach der Einsamkeit
ihres Dachzimmers in der rue de Gaillon, verzehrte sich nach seinen Händen, seiner Haut, nach den zärtlichen Worten, die er
nur für sie ersann − nach allem, was sie so lange abgewehrt hatte und ohne was sie sich jetzt nicht mehr vorstellen konnte
zu leben. Sie fühlte sich sterbenselend. Ihr war, als hielten eisige Finger ihren Nacken umklammert.
Was, wenn sie gerade den gewaltigsten Irrtum ihres Lebens begann? Vielleicht hatte ihre Liebe zu Charles und ihr Verantwortungsgefühl
für ihn sie auf einen Irrweg geleitet? Vielleicht waren ihre Pläne nur ihrer Unfähigkeit entsprungen, sich einer neuen Welt
anzupassen – und ihre vermeintliche Stärke nichts als Selbsttäuschung? Ein Schmerz durchzuckte ihre Brust: Sie würde André
schrecklich weh tun. Wenn ihre Entscheidung, Charles zu helfen und André dafür zu benutzen, richtig war, weshalb fühlte sie
sich dann so verzweifelt?
«Darf ich fragen, um was es hier geht?»
Der Kreis teilte sich, um dem Neuankömmling Platz zu machen, der offensichtlich von den erregten Stimmen angezogen worden
war.
Thérésia strahlte. «Monsieur de Barras!» Sie reichte ihre Hand zum Kuss mit einer Selbstverständlichkeit, die auf eine gewisse
Vertrautheit zwischen ihr und dem Staatsmann hindeutete. «Stellen Sie sich vor, Monsieur Levallois hier will sich aus einem
Ballon werfen!», erklärte sie aufgeregt.
«Zum großen Ruhm der Nation», sagte André und verneigte sich lächelnd. Marie-Provence rang sich ebenfalls ein Lächeln ab.
|320| «Sie haben recht. Man müsste dem Ganzen einen politischen Anstrich verleihen», meinte Tallien, der seine anfängliche Skepsis
überwunden zu haben schien. «Das Volk wäre gewiss für etwas Zeitvertreib dankbar. Was denken Sie, Barras?»
Barras warf einen scharfen Blick in die Runde. «Nun, nach der Fête de l’Être Suprême halte ich es grundsätzlich für angebracht,
die Neuorientierung der Regierung unter Beweis zu stellen. Wenn es Ihnen gelingt, Ihren Versuch mit einer solchen Aussage
zu verknüpfen, ließe sich darüber reden.»
Marie-Provence fühlte, wie Saisons auffordernder Blick auf ihr lag. «Der Absprung könnte zum Beispiel über einem besonders
symbolträchtigen Ort geschehen», hörte sie sich sagen.
«Gute Idee!», rief Saison. «Lassen Sie uns überlegen. Es müsste natürlich ein Ort sein, der genügend Freifläche für eine gefahrlose
Landung bietet.»
«Auch der Aufbau und die Apparaturen zur Herstellung des Füllgases erfordern Platz», pflichtete
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