Die Bank
…« Meine Stimme versagt, und ich starre erneut in den Spiegel. Ich sehe nur einen halben Menschen.
Gillian spürt, was mit mir los ist. »Wir haben vierzig’ Minuten bis hierher gebraucht. Wenn er ein Taxi oder einen Bus genommen hat, braucht er einfach länger. Ich bin sicher, daß es ihm gut geht.«
Ich mache mir nicht mal die Mühe zu antworten.
»Du mußt das positiv sehen«, fährt sie fort. »Wenn du das Schlimmste annimmst, dann bekommst du auch das Schlimmste. Aber wenn du das Beste denkst …«
»Hast du immer noch nicht begriffen, worum es hier geht. Es ist, als würdest du beim Boston-Marathon mitlaufen. Du hast ewig trainiert, du hängst dein ganzes Leben rein, und dann, als du gerade kurz davor bist, die Ziellinie zu überqueren, stellt dir irgend so ein Arschloch ein Bein, und du humpelst mit gebrochenen Knöcheln weiter und fragst dich, was all die harte Arbeit gebracht hat. Bevor du dich versiehst, ist alles weg. Dein Leben, deine Arbeit … Und dein Bruder …«
Gillian hat mich sorgfältig beobachtet und hebt nun den Kopf, als würde sie etwas begreifen, was sie noch nie zuvor wahrgenommen hat.
»Vielleicht sollten wir einfach zur Polizei gehen«, sagt sie. »Ich meine, etwas über den Tod meines Vaters herauszufinden ist eine Sache, aber wenn man anfängt, auf uns zu schießen … Ich weiß nicht, vielleicht sollten wir lieber die weiße Flagge schwenken.«
»Das kann ich nicht.«
»Wir brauchen nur die 911 zu wählen. Wenn du ihnen die Wahrheit erzählst, werden sie dich nicht dem Secret Service ausliefern.«
»Ich kann nicht«, wiederhole ich hartnäckig.
»Sicher kannst du«, kontert sie. »Du hast schließlich nur ein Bankkonto auf einem Computerbildschirm gesehen. Das ist schließlich noch kein Verbrechen …«
Ich wende mich ab, als die Stille es mir schwer macht zu atmen.
»Was?« fragt sie. »Was verschweigst du mir?«
Ich antworte nicht.
»Oliver, du kannst mir …«
»Wir haben es gestohlen«, bricht es aus mir heraus.
»Wie bitte?«
»Wir haben gedacht, das Geld gehört keinem. Wir haben deinen Vater gesucht, aber er war tot, und der Staat konnte keine weiteren Verwandten finden, also dachten wir, es gäbe keine Opfer, wenn wir …«
»Du hast das Geld gestohlen?«
»Ich wußte, daß wir es nicht tun sollten. Ich habe es auch Charlie erzählt. Aber als ich herausgefunden habe, daß Lapidus mich reingelegt hat … Und Shep sagte auch, wir sollten es durchziehen. Damals klang das alles ganz vernünftig. Doch plötzlich saßen wir mit dreihundert Millionen vom Secret Service da.«
»Um wie viele Millionen geht es?«
Ich sehe Gillian in die Augen. Wenn sie gegen uns arbeiten würde, dann hätte sie Gallo und DeSanctis niemals angegriffen. Das hat sie aber getan. Sie hat uns gerettet. Es wird Zeit, diese Schuld zu begleichen. »Dreihundertdreizehn.«
»Dreihundertdreizehn Millionen?«
Ich nicke.
»Ihr habt dreihundertdreizehn Millionen Dollar gestohlen?«
»Nicht absichtlich, jedenfalls nicht diese Summe.« Ich erwarte, daß sie schreit oder auf mich einprügelt, doch sie sitzt einfach nur da. Die perfekte indianische Sitzhaltung. Vollkommen schweigsam. »Gillian, ich weiß, was du jetzt denkst. Ich weiß auch, daß es dein Geld ist …«
»Es ist nicht mein Geld!«
»Aber dein Dad …«
»Dieses Geld hat ihn das Leben gekostet, Oliver! Jetzt kann er sich damit den Sarg auskleiden!« Sie blickt auf, und ihre Augen sind voller Tränen. »Wie konntest du mir das verschweigen?«
»Was hätte ich sagen sollen? Hi, ich bin Oliver. Ich habe gerade dreihundertdreizehn Millionen Mäuse geklaut, die deinem Dad gehörten. Hast du Lust, mitzukommen und auf dich schießen zu lassen? Wir wollten nur wissen, ob er noch am Leben war. Aber nachdem ich dich kennengelernt habe und mit dir Zeit verbracht habe … Ich wollte dir nicht weh tun, Gillian. Schon gar nicht nach alldem.«
»Du hättest es mir gestern nacht erzählen können …«
»Das wollte ich auch.«
»Und warum hast du es nicht getan?«
»Ich habe einfach … Ich wollte nicht lügen …«
»Aber du hast mich belogen«, sagt sie mit zitternder Stimme.
Ich weiche ihrem Blick aus. »Wenn ich noch einmal die Wahl hätte, würde ich es nicht mehr tun«, flüstere ich. »Gillian, ich schwöre dir …«
»Es geht gar nicht um die Lüge«, fällt sie mir ins Wort. »Und schon gar nicht um dieses schmutzige Geld«, fügt sie hinzu und wischt sich mit der Hand über die Augen. Sie ist immer noch bestürzt, aber
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