Die Bank
der Turnpike auf die Interstate 4 führen, oder die braunweißen Richtungszeichen, die uns über den World Drive leiten. Die ganze Zeit über waren Gillian, Charlie und ich relativ ruhig. Wir haben belangloses Zeug geplaudert, Stationen im Radio gesucht und aus dem Fenster nach den ersten Anzeichen des Vergnügungsparks Ausschau gehalten. Soweit ist das ein typischer Ausflug nach Disney World. Aber als das Wahrzeichen des Parks sich in der Ferne erhebt und die stilisierten Worte Magisches Königreich zu erkennen sind, recken wir alle voller Erwartung unsere Köpfe. Gillians Mund steht offen, und mein Bruder atmet so geräuschvoll, daß es mir auffällt.
Ich werfe Charlie einen kurzen Blick zu. Geht es ihm gut? Er wirft mir ein falsches Lächeln zu. Ich erwidere es. Dasselbe haben wir getan, als wir das erste Mal hier waren. Damals war er so aufgeregt, daß er auf der Fahrt in den Teetassen des Mad Hatter gekotzt hat, und ich hatte Angst, Captain Hook zu begegnen.
Wir schleichen uns an Schneewittchen heran. Während ich beobachte, wie sie sich bewegt und mit wem sie spricht, lehne ich mich an die Wand. Gillian steht neben mir und tut, als plaudere sie nett mit mir. Charlie ist noch nervöser als gewöhnlich und läuft die ganze Zeit zwischen den Menschen umher. Aber gleichzeitig starren wir alle hin, verfolgen jede Regung und machen uns im Kopf Notizen. Natürlich hat Schneewittchen keine Ahnung, daß wir hier sind. Und da wir uns in den Schatten von Aschenputtels Schloß ducken, bemerkt uns auch keines der lachenden Kinder und niemand von den fotografierenden Eltern, die es umringen.
Von dem Moment an, als wir den Park betreten haben, suchten wir nach diesen Figuren. Die Hauptstraße hoch, durch die Burg und direkt ins Fantasyland hinein. Aber erst als wir eine Sechsjährige kreischen hörten, sahen wir die Meute. Und da stand sie im Auge des Hurrikans: Schneewittchen, die Schönste von allen. Für die Kinder tauchte sie aus dem Nichts auf. Für uns … Genau darum geht es. Wenn man den Tunnel für die Mitarbeiter finden will, muß man sich an ebendiese Mitarbeiter hängen.
Schneewittchen schenkt einem Kind nach dem anderen einen magischen Moment. Einige wollen eine Unterschrift, andere Fotos, und das kleinste will einfach nur ihr Kleid anfassen und sie anstarren. Neben uns trägt ein Jugendlicher mit einem Pagenkopf ein schwarzes T-Shirt mit dem Aufdruck: Wenn man es Touristensaison nennt, warum dürfen wir sie dann nicht schießen? Genauso war Charlie mit fünfzehn. Neben ihm befinden sich Geschwister in einem heftigen Ohrfeigenkampf. Damals waren wir zehn. Aber als Schneewittchen den dreien zuwinkt, können sie nicht anders, als zurückzuwinken. Ich nehme die Zeit von der ersten Sekunde an. Acht Minuten nachdem Schneewittchen aufgetaucht ist und in dem Augenblick, als die Zuschauer die kritische Zahl erreichen, taucht ein Teenager mit einem Disney-Polohemd hinter den Leuten auf und gibt das Zeichen. Schneewittchen schaut hoch, fällt aber nicht aus der Rolle. Das war’s. Sie tritt zurück, verteilt Küßchen an die Menge und macht deutlich, daß sie sich verabschieden muß.
»Warum geht sie denn?« Das lockige Mädchen ist sichtlich enttäuscht.
»Sie verspätet sich sonst zu ihrem Treffen mit dem Prinzen«, erklärt ihr der Teenager so freundlich wie möglich.
»Meine Güte!« flüstert Charlie. »Ich hab gehört, daß sie sich schon vor Jahren haben scheiden lassen. Sie hat alles gekriegt. Bis auf den Spiegel.«
Gillian gibt ihm einen spielerischen Klaps auf den Arm. »Sag das nicht über …«
»Ruhe!« zische ich ihnen zu.
Blitzlichter zucken, ein letztes Autogramm wird unterschrieben, und ein letztes Foto für eine bettelnde Mutter wird gemacht. Dann tritt Schneewittchen, die wie ein Filmstar ihren Fans zuwinkt, von der Menge zurück, die immer noch enttäuscht murrt, bis …
»Pu der Bär!« schreit ein kleiner Junge, und alle drehen sich um. Dreißig Meter weiter taucht wie aus dem Nichts der vertraute Bär mit dem rötlichbraunen Fell auf und wird von winzigen Händen stürmisch umarmt. Das muß ich Disney lassen, sie wissen genau, wie man Leute ablenkt. Die Menge stürmt los. Wir bleiben. Und sehen nun die alte Holztür. Schneewittchen und der Teenager gehen geradewegs darauf zu. Die Tür liegt hinter Schneewittchens Burg links neben dem Schneewittchenbrunnen, direkt unter den Bögen, an der rückwärtigen Ecke eines Souvenirladens. Sie sieht fast wie der Zugang zu einer Toilette aus. Aber
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