Die Bankerin
auf den Hals. »Manchmal fragt man sich ein Leben lang, ob das, was man vorhat, das Richtige ist, und bevor man dann endlich einmal eine Entscheidung getroffen hat, ist das Leben zu Ende, und die Frage bleibt für immer unbeantwortet. Ich habe so lange das Falsche getan, und ich möchte dir das gleiche ersparen. Ich werde dich nicht auf Händen tragen, aber wir werden Hand in Hand gehen. Ich werde nie vergessen, wiealt oder wie jung du bist, aber ich werde immer für dich dasein.«
»Das hast du schön gesagt, es war auch nur ein momentanes Gefühl …«
»Ich kenne das, du hast Angst vor den Problemen, die auf uns zukommen werden. Angst vor Nicole, vielleicht auch ein wenig vor deinem Vater. Und womöglich stellst du dir die Frage, ob ich nicht doch zu alt für dich bin. Zumindest könnte ich es dir nicht verdenken.«
»Nein«, sagte sie beinahe entrüstet und entzog sich seinem Griff, feurige Funken in seine Richtung sprühend, »diesen Gedanken habe ich nie gehabt! Du bist nicht zu alt, ich bin nur älter, als ich eigentlich bin. Das haben schon viele gesagt. Laß uns am Montag nach Hamburg fahren und …« Sie stockte, sah zu Boden und kniff die Lippen aufeinander. »Heute abend, meinst du wirklich, du schaffst es, ihr zu widerstehen?«
»Vertrau mir einfach nur. Du hast keinen Grund, an mir zu zweifeln.«
»Wenn ich mir vorstelle, du schläfst mit ihr, du gibst ihr all das, was du mir gegeben hast, ich glaube, ich könnte wahnsinnig werden. Tu’s bitte, bitte nicht!«
Er küßte und streichelte sie, half ihr, die Wohnung aufzuräumen, die Unordnung zu beseitigen, die Nicole, die Hexe, am Abend zuvor und am Morgen hinterlassen hatte. Bevor David ging, tranken er und Esther noch einen Whisky mit Eis, und als die Zeiger der Uhr auf Viertel vor vier standen (welch perverses Gehabe der Zeit, manchmal zerflossen die Sekunden, die Minuten und Stunden wie glibbrige, zähe Masse, dann wieder, wenn alles Glück dieser Erde ihn umhüllte, galoppierte sie mit der Wildheit einer Rennstute davon!), ging David, und er wußte, welche Qualen Esther durchlitt, wenn sie an den Abend dachte.
Im Briefkasten steckten vier Briefe, von denen drei Mahnungen unbezahlter Rechnungen waren. Er hatte vergessen, siezu begleichen, schimpfte kurz leise mit sich wegen der jetzt anfallenden zusätzlichen Gebühren. Der vierte Brief war ohne Absender und von Hand geschrieben und von keinem Briefträger gebracht worden. David öffnete den Umschlag, gewarnt durch das Päckchen, mit aller gebotenen Vorsicht. Es war ein kleiner Zettel mit vier Zeilen:
Hast du dich schon um deine Tochter gekümmert? Das arme, arme Ding, läuft so allein im Wald herum, und dann kommen so böse Menschen! Wie schade um sie!
David schloß die Augen, er zitterte. Eine Kälte, die tief aus seinem Inneren kam. Er meinte, die Fistelstimme zu hören, sein gackerndes Gelächter, seine bösartigen Drohungen. Dieses verfluchte Phantom! Sollte er ihn je zu fassen kriegen, wie auch immer, er würde ihm die Fresse zu einem breiigen Klumpen zerschlagen, ihn breitbeinig über einen Stacheldrahtzaun ziehen und ihm anschließend glühende Eisen in den Hintern schieben, bis er um den erlösenden Tod bettelte!
Tränen des Zorns und der Ohnmacht stiegen ihm in die Augen, und während er die Treppen hinaufstieg – diesmal tappte er mitten in die frische Urinpfütze –, kamen ihm zwei junge Männer aus der Wohnung über ihm entgegen, zwei von denen, die er so lange so sehr verflucht hatte, doch sie waren Heilige im Vergleich mit dem Ungeheuer, mit dem er es inzwischen zu tun hatte. Sie hielten kurz inne, als sie den weinenden David erblickten; einer von ihnen, den David bisher immer als besonders brutal eingeschätzt hatte, blieb stehen und fragte David mit beinahe sanfter, mitleidiger Stimme: »Ist etwas passiert? Können wir Ihnen helfen?«
David schüttelte den Kopf und sagte mit belegter Stimme: »Nein, danke, aber dabei kann mir keiner helfen.« Die beiden jungen Männer sahen David nach, dann tuschelten sie, doch David konnte sie nicht verstehen, er schloß die Tür auf, schlug sie hinter sich zu, ließ sich in den Sessel fallen. Die Briefe rutschten ihm aus der Hand, als ein Weinkrampf ihndurchschüttelte. Er legte seine Hände auf die Tischplatte und den Kopf in die Hände. Wie sinnlos doch das Leben war! Welche Freude konnte er daran haben, mit Esther fortzugehen, wenn die, die er einmal geliebt hatte und die er auf eine gewisse Weise immer lieben würde, zu leiden
Weitere Kostenlose Bücher