Die Bankerin
Sie können es ruhig glauben, mein sehnlichster Wunsch ist, endlich schuldenfrei zu sein. Nicht jeden Pfennig zigmal umdrehen zu müssen und alles, was ich kaufe, wieder bar bezahlen zu können.« Er nahm einen kleinen Schluck von dem zu trockenen Wein und sah Dr. Vabochon an, eine bis jetzt aufmerksame Zuhörerin, auf deren Gesicht sich keiner ihrer Gedanken widerspiegelte.
»Sie sind also unglücklich«, stellte sie trocken fest.
»Ja, das gebe ich ganz offen zu. Das wäre wohl so ziemlich jeder an meiner Stelle. Ich glaube, meine Kinder verstehen am wenigsten, was geschehen ist. Ich mußte meinen Ältesten von Harvard nehmen, meine beiden anderen Kinder von der Privatschule, und mein Jüngster ist schwer herzkrank.«
»Was halten Sie davon, wenn ich Ihnen helfe?«
»Sie mir helfen? Wie soll das funktionieren?«
»Später«, sagte sie, drehte das Glas zwischen den Fingernund setzte es an die Lippen. Sie lehnte sich zurück, nahm ihre Handtasche von der Lehne, holte eine Schachtel mit filterlosen, schwarzen Gauloises heraus, hielt ihm die Schachtel hin, er lehnte dankend, doch entschieden ab. Sie zündete die Zigarette an und inhalierte tief. Durch den ausgeblasenen Rauch sah sie ihn aus zu Schlitzen verengten Augen an.
»Schauen Sie mich an … was glauben Sie … bin ich glücklich?«
Er hob nur die Schultern.
»Sicher, wenn man Glück allein am Geld messen würde, müßte ich es eigentlich sein. Aber mein Leben ist eintönig, in etwa so aufregend wie das einer hundertjährigen Schildkröte. Ich lebe allein, ich arbeite allein, ich esse allein. Abends läuft meist der Fernsehapparat, und oft schlafe ich dabei ein. Ich habe weiter keine Hobbys, ich glaube, ich bin so ziemlich die untalentierteste und langweiligste Person in ganz Frankfurt. Also, glauben Sie immer noch, ich sei glücklich?«
»Tut mir leid …«
»Es braucht Ihnen nicht leid zu tun. Ich möchte nur manchmal meine Sachen packen und alles hinschmeißen und abhauen. Weit, weit weg, aber ich weiß, daß ich damit nichts, aber auch gar nichts ändern würde. Sie sehen, jedes Ding hat zwei Seiten. Sie haben kein Geld, aber eine große und wie ich hoffe glückliche Familie. Bei mir ist es genau umgekehrt. C’est la vie, c’est le péché, c’est la guerre!«
Was für ein Spiel war das? Statt über seine mißliche Lage zu sprechen, tranken sie Wein – der ihm schon nach wenigen Schlucken in den Kopf stieg –, warteten auf die Lasagne und philosophierten über Glück und Unglück. Sie drückte ihre Zigarette im Aschenbecher aus und sah ihn für ein oder zwei Sekunden an. Der Ober kam und stellte das Essen auf den Tisch, sie begannen zu essen.
»Den Salat sollte man genießen, solange er noch ganz frisch ist«, sagte sie. Das Essen war tatsächlich außergewöhnlich gut, und als krönenden Abschluß bestellte sie noch für jedeneine Riesenportion Vanilleeis mit Früchten und Sahne. Nach dem zweiten Glas Wein spürte er das ungewohnte Zirkulieren des ungewohnten Alkohols in seinem Blut, seine Sinne wurden leicht, sie rauchte eine weitere Zigarette, ihre mit Belanglosigkeiten gefüllte Unterhaltung plätscherte dahin wie ein kleiner, ruhiger Bergbach an einem milden Frühlingsabend. Das Lokal füllte sich zusehends, der Lautstärkepegel stieg deutlich an.
»Lassen Sie uns gehen«, sagte sie eine gute Stunde später und winkte den Ober herbei, »die Gemütlichkeit ist dahin.«
»Aber …«
Sie reagierte nicht. Mit einer Kreditkarte beglich sie die Rechnung, die weit mehr ausmachte als das, was er bei sich trug. Sie stand auf, zog ihr dünnes Jäckchen über und ging mit selbstbewußten Schritten zur Treppe. Er folgte ihr gezwungenermaßen, bewunderte ihren leichten, doch festen Gang, folgte dem klackenden Tippeln ihrer hochhackigen Schuhe auf dem Steinboden, glaubte, bewundernde Blicke der anwesenden Männer zu ernten, wobei doch keiner ahnen konnte, was ihn wirklich mit dieser Frau verband. So sehr er sich auch anstrengte, er vermochte sich keinen Reim auf all dies zu machen. Es ging doch nur um seine Schulden, dabei hatte er in einem teuren Restaurant mit ihr gespeist, Wein getrunken … Sie tänzelte vor ihm die Treppe hinauf, schöne feste Beine, eine Idee zu kräftig in den Waden vielleicht, doch das hing vom Geschmack des Betrachters ab. Draußen blieb sie stehen, faßte sich kurz an die Stirn und sagte: »Jetzt habe ich doch über dem Essen und der Unterhaltung ganz den eigentlichen Grund unseres Treffens vergessen. Was machen wir
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